Die Macht der Oberen entzaubern

Wahlkampf in Kenia: Die bisher kaum etablierte Oppositionskandidatin Charity Ngilu sammelt Punkte mit ihren Versprechen, Korruption, Angst und Niedergang unter der Herrschaft von Präsident Moi ein Ende zu setzen  ■ Aus Kisii Peter Böhm

Die Begeisterung kennt keine Grenzen. Frauen, Männer und Kinder laufen neben dem Autokonvoi her, tanzen und singen und antworten auf die Parolen vom Lautsprecherwagen. Eine Frau gerät gänzlich aus dem Häuschen, reckt die Arme in die Höhe und zuckt hysterisch mit dem Kopf. Daß dabei ihr Kopftuch in den knöcheltiefen Matsch fällt, kümmert sie nicht. Sie schreit: „Ich werde für sie wählen!“ Andere stehen starr vor Verzückung am Straßenrand und scheinen ihr Glück kaum begreifen zu können.

Das Glück – das ist Charity Ngilu. Sie ist nach Kisii gekommen, in die Südwestecke Kenias am Victoriasee, nahe der Grenze zu Tansania, um für ihre Präsidentschaftskandidatur zu werben. Charity Ngilu ist neu im Rennen um die Macht in Kenia, und obwohl die Opposition zum Regime von Präsident Daniel arap Moi nach ethnischen Gesichtspunkten zersplittert ist, hat Ngilu in der letzten Phase des Wahlkampfes so etwas wie eine Oppositionsführerin dargestellt. Sie gibt die Themen vor, Moi muß reagieren.

Die meisten westlichen Botschaften in Nairobi und die unabhängigen Medien verhehlen ihre Sympathie für die 45jährige nicht, und sie gilt zusammen mit dem ehemaligen Finanzminister und Vizepräsidenten Mwai Kibaki, einem Kikuyu, als aussichtsreichste Oppositionskandidatin. Doch der Präsident in Kenia wird mit einfacher Mehrheit gewählt und muß laut Verfassung mindestens 25 Prozent der Stimmen in fünf der acht Provinzen erreichen. So braucht Moi keine Angst vor einer Stichwahl zu haben, die Charity Ngilu möglicherweise gewinnen könnte, weil sie aus der relativ kleinen Bevölkerungsgruppe der Kamba kommt, die, anders als die Kikuyu, in der politischen Szene Kenias bisher keine entscheidende Rolle gespielt hat.

„Ich möchte die Kenianer befreien und die Macht der Oberen entzaubern“, sagt Charity Ngilu auf die Frage, was sie antreibt, und diese Antwort muß im autoritären Kenia nicht unbedingt als Wahlkampfgeklingel abgetan werden. „Haben Sie gesehen, wie die Leute fast zittern, wenn sie Moi sehen?“

Ihr politisches Vorbild: Ugandas Präsident

Ngilu ist die Kandidatin, die einen Wechsel in Kenia am ehesten glaubhaft symbolisieren kann, und gilt vor allem bei den Frauen und den jungen Menschen als populär. Im Gegensatz zu anderen Oppositionsführern hat sie nur eine vergleichsweise einfache Bildung. Sie arbeitete als Sekretärin des Zentralbankchefs und war dann Bankangestellte. Nach einer Zeit, als sie ihr eigenes Restaurant in ihrer Heimatstadt Machakos leitete, arbeitete sie in dem Betrieb ihres Ehemannes in Nairobi, der Baustoffe herstellt. 1992 gewann sie, damals noch für Kibakis Demokratische Partei, einen Parlamentssitz, wechselte allerdings ein Jahr später zur Sozialdemokratischen Partei, die sie jetzt zur Präsidentschaftskandidatin kürte. Für den Fall ihrer Wahl hat sie versprochen, eine weitreichende Verfassungsreform zu initiieren und nach einem Jahr Neuwahlen anzusetzen. Nach ihrem politisches Vorbild gefragt, nennt sie den ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni: Dessen „Agenda“ gefalle ihr.

In den drei Kisii-Distrikten in der Nyanza-Provinz, am östlichen Ufer des Victoriasees, sind eine Menge Stimmen zu holen. In diesem fruchtbaren Hochland wurden 600.000 Wähler von knapp neun Millionen im ganzen Land registriert. Bei den letzten Wahlen 1992 wurden hier drei Leute der Regierungspartei KANU ins Parlament gewählt. Doch die Stimmung hat sich geändert, seit es zu ethnischen Auseinandersetzungen zwischen den Kisii auf der einen Seite und den Masai, die der KANU nahestehen, und den Luo, die Raila Odingas Oppositionspartei NDP zuneigen, auf der anderen Seite kam.

Wenn auch noch vier der bekanntesten von den 15 Präsidentschaftskandidaten gleichzeitig in einer solchen Region auf Tour gehen, sind Zusammenstöße vorprogrammiert. Der Ansturm der Kandidaten gerade hier ist kein Zufall, denn im dichtbesiedelten Westen Kenias gilt der Wahlausgang noch als offen, während die Provinzen Rift Valley, Nordosten und Küste traditionell als sicher für Präsident Daniel arap Moi gelten.

Charity Ngilu und Mwai Kibaki werden sich hier wohl die Stimmen teilen. Deshalb und weil Charity Ngilu 1992 Kibakis Partei im Streit verlassen hat, fällt die Begrüßung der beiden am Morgen im Gästehaus der katholischen Kirche in Kisii, wo sie beide übernachtet haben, merklich frostig aus. Ngilu bestätigt, daß es Gespräche gegeben hat, um sich auf einen gemeinsamen Oppositionskandidaten zu einigen. „Obwohl ich von verschiedenen Seiten vorgeschlagen wurde“, sagt sie darüber, „wollte keiner auf seinen Anspruch verzichten.“

Charity Ngilu ist sich nicht zu schade, Wahlkampf von Tür zu Tür zu machen. Durch strömenden Regen und über matschige Pisten – ein sicheres Zeichen, daß in diese Region schon lange kein Geld mehr aus dem kenianischen Budget geflossen ist – geht es in abgelegene Dörfer. Zuvor hatten Charity Ngilu und die Parlamentskandidaten ihrer Sozialdemokratischen Partei (SDP) in einem improvisierten Treffen die Route festgelegt. Da jeder Ngilu am liebsten in den eigenen Wahlkreis lotsen würde, wird lange gestritten. An diesem Abend macht Daniel Rasugu das Rennen, der mit Charity Ngilu früher in Kibakis Partei war. Er greift sich das Mikrophon im Lautsprecherwagen, und ab geht es durch den Wald, den Rasugu mit monoton wiederholten Lobpreisungen über Charity Ngilu und ihre SDP beschallt.

Bei jeder Häusergruppe, an der sich eine Großfamilie am Straßenrand versammelt hat oder gerade aus allen Richtungen herbeistürmt, läßt Ngilu anhalten und schüttelt entweder die ihr euphorisch entgegengereckten Hände oder ergreift selbst das Mikrophon, wenn die Gruppe fünfzig Menschen übersteigt. Sie sagt, was sie im Wahlkampf immer sagt: „Unter Kenyattas Regierung, als ich selber noch in die Schule ging, war die Erziehung kostenlos, und es gab noch Medikamente in den Krankenhäusern.“

Wenn Moi heute in die Wahlkreise komme und Geschenke verteile, fährt Ngilu fort, „dann denkt daran: Das Geld für die Limonade oder den Tee, die ihr an diesem Tag trinkt, sollte eigentlich für ein Schulbuch oder für Medikamente in den Krankenhäusern sein!“

Ihr Wahlkampfstil: Keine Bestechung

Charity Ngilus engagiertes Auftreten gegen die Korruption und ihr Wahlversprechen, daß die Schule und die Krankenversorgung – sollte sie gewählt werden – wieder staatlich finanziert werden sollen, hat Moi in die Defensive gebracht. In einem Interview im Privatsender KTN stotterte der 73jährige am Wochenende: „Korruption hat nicht gestern begonnen. Wenn es sie gegeben hat, dann hat sie damals angefangen, als sie in der Regierung aktiv waren“ – gemeint sind seine Gegner.

Im direkten quantitativen Vergleich mit Charity Ngilu ist Moi in Kisii-Stadt trotzdem der eindeutige Gewinner. Er zieht am Morgen eine weit größere Menge ins Stadion als seine Gegnerin am Nachmittag. Allerdings regnet es zum Zeitpunkt von Mois Auftritt nicht, der KANU-Parlamentskandidat gilt als sehr beliebt und als so gut wie wiedergewählt, und ein Großteil der Menge hat wohl auch – wie ein Teilnehmer verschmitzt danach feststellte – auf kidogo (Suaheli für „etwas Kleines“) gewartet, also auf ein Bestechungsgeld oder schlicht eine Gabe.

Ngilu lehnt als eine der wenigen Kandidaten diese Art des Wahlkampfes ab, und ihre Entourage, der die verlangenden Hände ins Auto entgegengestreckt werden, reagiert darauf gereizt. Trotzdem soll Moi, wie aus seiner Umgebung zu hören war, verärgert über den mangelden Zuspruch aus Kisii vorzeitig abgereist sein. Zuvor hat er aber noch einen klugen Schachzug getan: Der Präsident erklärte einige Gebiete in der Region wegen der ethnischen Auseinandersetzungen zur Sicherheitszone.

Wie immer bei Wahlkämpfen in Kenia gehen nämlich auch 1997 die Emotionen hoch und fliegen die Steine. Mindestens drei Menschen sind landesweit bisher umgekommen, und mehr als fünfzig wurden verletzt. Dennoch ist die Einstufung einer Region als Sicherheitszone eine unübliche Maßnahme, die zum Beispiel sogar bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen in den Touristengebieten an der Küste im Sommer unterblieb. Nun wird sie vollzogen, und damit verbietet der Präsident seinen Konkurrenten, in den betreffenden Gebieten Wahlkampfveranstaltungen abzuhalten.

Ihr Hauptgegner: der Polizeiknüppel

Als Charity Ngilu am nächsten Tag versucht, in einer dieser Regionen zu sprechen, wird sie weit davor an einer Polizeisperre aufgehalten. Nach einem erregten Wortwechsel laden die Polizisten demonstrativ ihre Gewehre durch und richten sie auf die Wahlkämpfer. Um sich beim Polizeikommandanten des Distrikts, der in Kenia direkt dem Präsidentenamt unterstellt ist, zu beschweren, fährt der Konvoi zurück nach Kisii-Stadt. Doch der oberste Polizist weist jede Verantwortung von sich, da die Straßensperre in der Zuständigkeit eines anderen Distriktes liege.

Vor dem Polizeirevier besteigt Charity Ngilu den Lautsprecherwagen und beginnt eine flammende Rede. Schließlich brauchen die politischen Parteien seit einigen Wochen ja keine Sondererlaubnis mehr, um Versammlungen abzuhalten – eines der Ergebnisse der Gespräche zwischen Regierung und Opposition, die auf die Protestaktionen des Sommers folgten. Ngilu klagt Moi an, sein Präsidentenamt zu benutzen, um sich Vorteile im Wahlkampf zu verschaffen. Innerhalb weniger Minuten ist auf dem Platz vor dem Polizeirevier eine große Menge zusammengeströmt.

Aber alte Verhaltensmuster ändern sich eben nicht so schnell. Ein Polizist betätigt die Alarmsirene, und die Kräfte formieren sich. Plötzlich haben auch Zivilisten, die sich zuvor aus der Menge gelöst haben, einen Helm auf. Die ersten Tränengasgranaten werden geworfen, einige direkt auf das Auto von Charity Ngilu, und wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann, auf dessen Rücken lassen die Polizisten den Knüppel tanzen.