Die Sau auf dem Sofa

Harmonisch. An diesem Abend sollte alles ganz harmonisch sein. Wochenlang hatten Mama und Papa kein gutes Haar am jeweils anderen gelassen. Türen waren ins Schloß geknallt (Papa), Tränen bächeweise geflossen (Mama). Und nun, am Heiligen Abend, sollten wir die glückliche, ins Kerzenmeer träumende Durchschnittsfamilie geben, die zur James-Last-Weihnachtsplatte besinnliche Lieder sülzt: Oh, du fröhliche!

Die verordnete Harmonie widersprach meiner Grundstimmung. Hatte mich Papa doch sorgsam mit mitternächtlichen Extrarationen spannender Spätfilme vollends auf seine Seite gezogen. Mit halb geschlossenen Augen konnte ich meinen MitschülerInnen in der 2. Klasse von Action-Szenen berichten, deren Ausstrahlungszeit jenseits ihrer Vorstellungskraft lag. Glotzen bis zum Sendeschluß war knorke und Papa echt super.

Während der stillen Film-Sequenzen hatte er mir nahegebracht, daß diese Frau, die frecherweise behauptete, meine Mutter zu sein, weder ihn noch mich lieb hätte und mit ungeheuerlichen Forderungen – etwa arbeiten zu gehen oder mal was alleine unternehmen zu wollen – mich und ihn gänzlich im Stich zu lassen gewillt war. Ich war empört. Mir hatte sich diese gemeine Ader meiner Mutter zwar noch nicht erschlossen, doch in einem war ich ganz sicher: Väter, mit denen man Krimis gucken kann, bis einem die Augendeckel zuklappen, können nicht lügen.

Und nun mit dieser Frau gemeinsam Weihnachtslieder singen? Das machte einfach alles überhaupt keinen Sinn. War ich doch gewillt, Papa heldenhaft in seinem Kampf gegen dieses weibliche Ungetüm beizustehen, das nicht mal bereit war, mir die Schnürsenkel zuzubinden (da war Papa ganz anders!). Kampfeslustig stapfte ich auf eine Tannenbaumkugel. Mein tannenbaumschmückender Vater, kein Mann mit stählernen Nerven, raunzte mich an, ich sollte mich gefälligst neben meiner Mutter auf der Couch plazieren. Ich??? Zu meiner Mutter setzen??? Das ging nun zu weit. Ich protestierte kraftvoll ob der unmoralischen Aufforderung: „Mit dieser alten Sau setz' ich mich doch nicht auf ein Sofa!“

Mußte ich auch nicht. Meiner Mutter schossen erst die Tränen aus den Augen (typisch!), dann schoß sie aus dem Zimmer und kurz darauf aus dem Haus (endlich!). „Sie ist weg“, jubilierte ich und hoffte auf väterliches Lob. Das blieb zu meiner Verwunderung aus. „Fernsehgucken, Papa?“fragte ich erwartungsvoll. „Nein!“„Papa...?“„Raus!“

Obwohl meine Mutter nicht wiederkam (Papa nannte das Scheidung – komisches Wort!), war es vorbei mit dem Mitternachtsprogramm. Und plötzlich erzählte Papa, daß sie eigentlich die beste, tollste, liebste Frau, Mutter, Köchin und so weiter gewesen sei. Seit diesem Abend bin ich im Zweifel, ob Väter, die mit einem bis zum Abwinken superspannende Filme gucken, immer die Wahrheit sagen. Zumindest sind sie ziemlich wankelmütig. Thomas Koch