Würfeln um Teewurst und Turnhalle

Alle Jahre wieder und immer zur Weihnachtszeit wird in der niedersächsischen Bauerschaft Westerloy das Haushaltsloch auf spielerische Art gefüllt: Einheimische und Touristen knobeln um die Wette. Das Geld bleibt im Dorf  ■ Von Jens Rübsam

Für Klaus Groß hat der Dezember 28 schöne Abende. Sie sind meistens kalt und gemütlich. Sie werden geführt unter „Knobelaktion“ und bringen viel Geld ein, gut 25.000 Mark am Monatsende. Sie finden in den drei Wirtschaften des Ortes statt und haben oft einen feuchtfröhlichen Ausgang. Daneben gibt es für Klaus Groß noch drei gewöhnliche Dezembertage, an denen nicht geknobelt wird. Heiligabend. Erster Weihnachtsfeiertag. Silvester. Da darf er nicht den Vorsitzenden des Ortsbürgervereins Westerloy spielen.

Dies also hier ist ein schöner Abend. Und Klaus Groß kann Vorsitzender des Ortsbürgervereins Westerloy sein.

Es ist später Nachmittag. Es ist bitterkalt. Die Straßen im niedersächsischen Ammerland sind überfroren. Westerloy, die kleine Bauerschaft, die zur Stadt Westerstede gehört, döst in Gemütlichkeit. Vor jedem Haus strahlt ein Weihnachtsbaum. Damit das auch täglich klappt, gibt es Vorschriften: einschalten pünktlich um sechs Uhr morgens, ausschalten pünktlich um neun Uhr morgens, wieder einschalten pünktlich um vier Uhr nachmittags und wieder ausschalten pünktlich um ein Uhr nachts. Dafür hat jeder Haushalt vom Ortsbürgerverein eine Schaltzeituhr bekommen. Westerloy hat 150 Haushalte und zur Weihnachtszeit mehr als 150 beleuchtete Weihnachtsbäume. Aber das hat schon seine Richtigkeit. Um den „Mühlenhof“ herum stehen fünf – der „Mühlenhof“ ist schließlich so etwas wie der Mittelpunkt Westerloys. 1978 haben sich die Einwohner ihr Dorfgemeinschaftszentrum in Eigeninitiative geschaffen. Anfangs gab es viel Knatsch darum. Die Wirte befürchteten Konkurrenz. Der Ortsbürgerverein, der es gewohnt war, alles, was es im Ort zu regeln gab, zur Zufriedenheit aller zu regeln, stellte den Dorffrieden wieder her. Die Wirte bekamen abwechselnd einen Platz im Vorstand und konnten fortan mitbestimmen.

So ist das eben noch in Westerloy. Gemeinschaft geht über alles. „Jeder Haushalt ist Mitglied im Ortsbürgerverein. Seit vielen Jahren nehmen wir am Wettbewerb ,Unser Dorf soll schöner werden‘ teil. Wir haben acht Vereine, die alle sehr aktiv sind.“ Sagt Klaus Groß. Oder sind es vielleicht doch nur sieben? Egal, Vorhaben werden in Westerloy gemeinsam geplant, und gemeinsam werden sie auch realisiert. Und Klaus Groß ist froh, daß das so ist. „Nehmen wir doch nur mal die Weihnachtszeit.“

Gut, nehmen wir die 28 schönen Abende im Dezember. Die Knobelaktion. Und den „Mühlenhof“, das heimelige Ammerländer Bauernhaus, mit reetgedecktem Dach, einer schweren Holztür und den kleinen Fenstern, aus denen schummriges Licht dringt.

August Henkensiefken steht am Eingang vom „Mühlenhof“, heute etwas unruhig, er hat was mit dem Knie, was es genau ist, das weiß man nicht. Was er wußte, als er am Vormittag beim Arzt war: Er kann doch an solch einem schönen Abend im Dezember nicht einfach ausfallen. Er ist doch der „Immer- gute-Laune-Opa“ von Westerloy mit einem stetigen Lachen auf den Lippen, das oft trösten muß, besonders dann, wenn die Knobel- Gäste sich verabschieden und ihn wissen lassen, sie haben achtzig Mark verknobelt und von all den schönen Preisen nicht mal eine eingeschweißte Teewurst bekommen.

Dabei gibt es die Teewurst schon für 41 Augen, aber das ist Knobel-Latein und muß erklärt werden: Mindesteinsatz beim Westerloyer Knobeln ist 1 Mark. Der Spieler hat drei Würfe mit je drei Würfeln. Die höchste Augenzahl pro Wurf ist 18, bei drei Würfen also 54, ab 41 werden Preise verteilt. „Aber 54“, sagt August Henkensiefken, und er lacht schon wieder laut und etwas schelmisch: „54 hatten wir noch nie.“

Er muß es wissen. 17 Jahre steht er am Eingang vom „Mühlenhof“, immer in der gleichen Ecke vorn am Eingang. Hinter ihm auf einem Regal die eingeschweißten Rostzwiebelwürste und Teewürste. In einem Knobel-Dezember gehen rund 6.000 Teewürste weg. Vor ihm auf dem Tresen der Block mit den grünen Zetteln, mit denen die Schreiber von Tisch zu Tisch ziehen und alle Knobelpunkte notieren. Die Schreiber „sind alles Ehrenamtliche“. Schön, er bekommt 60 Mark pro Abend „Aufwandsentschädigung“. Dafür macht er auch alles. Die vielen Touristen begrüßen, die pro Abend von großen Bussen vorm „Mühlenhof“ ausgeladen werden, selbstverständlich auf Plattdeutsch: „Moin.“ Für Nachschub sorgen, wenn irgend etwas fehlt, gerade sind es Teelichter. Gute Laune verbreiten, das sowieso. Und abends aufräumen, die Abrechnung machen, zwischen 1.300 und 1.400 Mark hat er dann meist zusammen. „Das Geld“, sagt August Henkensiefken zufrieden, „das bleibt ja hier in Westerloy.“

Schnell will er noch daran erinnern, warum, das weiß man nicht so genau, daß er erst vor zwei Jahren, mit 61, seine Landwirtschaft aufgegeben hat. Jetzt nur noch eine Kuh im Stall hat, weil, „da vergißt man wenigstens nicht, morgens aufzustehen“. Zwei „Müllschlucker“ quietschen bei ihm im Stall, „Müllschlucker“ sind in Ammerland Schweine. Und außerdem hat er noch 25 Hühner, einen Hahn, Hund und Katzen, und den Bullenstall hat er zu Ferienwohnungen ausgebaut, dazu hat ihn Klaus Groß überredet. Ach ja, und dann das noch: Der Ortsbürgerverein hat ihn irgendwann einmal damit beauftragt, die Außenlagen vom „Mühlenhof“ zu pflegen, für 12 Mark die Stunde. So ist er auch im Alter ausreichend beschäftigt. So ist das eben in Westerloy. Vergessen wird hier niemand.

Klaus Groß kommt in den „Mühlenhof“, nicht, um nach dem Rechten zu schauen, er weiß, daß alles gut läuft. Der August hat den Laden im Griff, die „Schinkenplatte“ verkauft sich gut wie immer, 180mal am Abend, die „Mühlenhofplatte“ 300mal. Wieder ist die Stimmung norddeutsch ausgelassen. Ist es ein schöner Abend. Es wird geknobelt, hier im „Mühlenhof“ tun es traditionell die Touristen, in den beiden anderen Wirtschaften die Einheimischen – die Knobelgelder kommen dem Ortsbürgerverein und damit dem Ort zugute, aber auch den anderen ansässigen Vereinen. Das ist die Westerloyer Art, den leeren Kassen zu trotzen. „Ohne diese Knobelgelder“, gibt Bürgermeister Heino Hinrichs (SPD) zu, „hätte sicherlich manches in Westerloy nicht gemacht werden können.“

Das Kompliment gilt nicht gerade einem Parteifreund. Klaus Groß ist FDPler. Er ist in Westerloy so etwas, wie es einst Hans- Dietrich Genscher für Halle war. In der Bauerschaft heimst er bei Kommunalwahlen stets 85 Prozent der Stimmen ein, die Leute wählen ihn und nicht die FDP, das weiß er. Mit der Partei kann er im übrigen nicht viel anfangen, „zu viele Abgehobene“. „Bei mir ist das Tradition“, und wie er das sagt, klingt es fast ein wenig entschuldigend, und dann wirft Klaus Groß noch einen großen Satz hinaus über das Ammerland: „Wir als FDP stehen hier unter Naturschutz.“ Der Großvater seiner Frau, der Alfred Post, war Alterspräsident des niedersächsischen Landtags und ein angesehener FDP-Politiker. Aber das ist lange her.

Heute sitzt Klaus Groß im Stadtrat von Westerstede und wird verlegen, wenn die Leute sagen: „Ohne den Klaus wäre in Westerloy vieles nicht vorwärts gegangen.“ Er saß auch schon mal im Kreistag und auch schon mal in einer Managerschulung des DFB. Dort lernte er den Willi Lemke kennen, den Manager von Werder Bremen. Den holte er nach Westerloy, um die Leute von einem neuen Turnhallenkonzept zu überzeugen. Es klappte. Klaus Groß war schließlich immer Stürmer beim TuS Westerloy, Linksaußen.

Und so kann er lässig, ungefähr so, wie andere mit Konfetti schmeißen, die Projekte aufzählen, die durch die Knobelgelder realisiert wurden. Da kommt leicht was zusammen, bei den Tausenden von Touristen, die der Ortsbürgerverein im Dezember durch die Wirtschaften von Westerloy schleust. 100.000 Mark wurden zur Finanzierung einer neuen Turnhalle beigesteuert; 50.000 Mark zur Finanzierung eines Kindergartenneubaus; 10.000 Mark für neue Straßenlaternen; 1.500 Mark für das Einstiegsgeschenk des Schuldirektors, Videogerät und Fernseher, zu nutzen für alle Grundschulkinder; 50 Mark für neue Blusen des Frauengesangvereins; und erst letztens 30.000 Mark zur Vorfinanzierung eines Dorfvideos.

Und das nächste Projekt steht vor der Tür. Ein Radweg. Der Ortsbürgerverein hat sich dafür stark gemacht und will nicht warten, bis öffentliche Mittel zur Verfügung stehen. Das wäre in ungefähr acht Jahren. Soviel Zeit bleibt aber nicht, die Sicherheit der Kinder geht vor. Die zirka 30.000 Mark wird jetzt der Verein vorschießen. Selbstverständlich. Ach ja, da ist noch ein Kaufmannsladen. Den wünschen sich die älteren Leute im Ort. Aber wie das realisieren? Dafür ist ja schon eine größere Summe Geld vonnöten.

Halt. Zeit zum Luftholen. Für Klaus Groß nicht ganz einfach. Unbedingt muß an dieser Stelle das Wörtchen stolz noch untergebracht werden. Stolz ist man in Westerloy auf den Kindergarten. Denn wie das damals war, vor sieben Jahren, ist schon erzählenswert, ausführlich. Auf einmal war kein Platz mehr für die Westerloyer Kinder im Kindergarten der Nachbargemeinde Apen und auch nicht in Westerstede. Der Ortsbürgerverein beriet, und kurzum entschloß man sich, einen eigenen Verein zu gründen und ein Gebäude zu bauen und damit – so ganz nebenbei – auch die örtliche Grundschule zu stärken, denn die stand kurz vor der Schließung. Der Verein „Gänseblümchen“ wurde also gegründet, und innerhalb von ein paar Monaten stand das neue Haus, und Minister Töpfer wurde zum Ehrenmitglied ernannt. Der war gerade zu Besuch.

Durchatmen. Dann wieder etwas, worauf Westerloy stolz ist. Auf den Sportverein, der über 900 Mitglieder hat, obwohl der Ort nur 550 Einwohner zählt. Wie das zustande kam? „Die Atmosphäre, das breite Angebot und, zugegeben, die niedrigen Mitgliedsbeiträge.“ Um die 60 Mark im Jahr werden gezahlt. Das alles hat die Leute von den Nachbargemeinden überzeugt. Puh. Dann finden noch Erwähnung die vielen Arbeitskreise. Der Arbeitskreis Dorfchronik, der Arbeitskreis Dorfvideo oder der Arbeitskreis Kaufmannsladen. Und schnell auch das noch: Westerloy wurde vor zwei Wochen vom Land Niedersachsen für den europäischen Dorferneuerungswettbewerb nominiert.

Im „Mühlenhof“ verteilt August Henkensiefken derweil die Preise. Die eingeschweißten Teewürste und Rostzwiebelwürste und Schinkenplatten. Johann Janssen ist zufrieden. „Schöner Abend. Schöne Atmosphäre. Gutes Essen. Was zu trinken. Was zum Spielen.“ Die 80 Kilometer von Aurich nach Westerloy haben sich gelohnt. Auch für den Ortsbürgerverein. Allein Janssens Betriebsgruppe hat 150 Mark Knobelgeld dagelassen. Klaus Groß denkt an sein Motto: „Nicht lang snaken, anpacken.“ Im Januar geht's wieder los.