Betr.: Der Fotograf Clive Shirley an der Grenze zu Mexiko

Auf der Landkarte ist es nur ein roter Strich. Doch wirtschaftspolitisch gesehen stellt die 4.000 Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den USA die Barriere dar, die den armen Süden vom reichen Norden trennt. Tijuana ist auf mexikanischer Seite die größte Stadt an dieser Grenze. Menschen aus allen Ländern Lateinamerikas strömen in die Stadt. Sie haben nur ein Ziel: weiterzufahren in die Vereinigten Staaten.

1992 war Clive Shirley zum erstenmal in Tijuana. Damals war der illegale Grenzübertritt vergleichsweise einfach. Ganz anders die Situation, als Shirley vier Jahre später wiederkam. Nun gab es einen meterhohen Eisenzaun, auf dessen nördlicher Seite patrouillierten Grenzsoldaten, in den Erdboden waren flächendeckend Bewegungsmelder eingelassen. – Sie versuchen es dennoch. An der Stelle, an der Shirley das Foto machte, kreuzt das trockene Bett des gleichnamigen Flußes die mexikanisch-amerikanische Grenze, daher auch die Öffnung im Eisenzaun. Zu Hunderten stehen sie dort – und warten. Darauf, daß der Grenzer im Jeep sich eine Unaufmerksamkeit leistet, daß es Nacht wird, um im Schutz der Dunkelheit loslaufen zu können. Die Chancen durchzukommen sind minimal, aber die Männer haben keine andere Wahl. Ein Rückfahrschein ist im Reisebudget nicht vorgesehen.

Abends kann es dort gefährlich werden, besonders für jemanden, der mit teueren Fotoapparaten durch die Gegend stiefelt. Drogenhandel, Kinderprostitution und bei Touristen aus den USA beliebte Tequillaexzesse, sagt Shirley, haben Tijuana zu einem „Elendsort werden lassen, wie ich ihn noch nie gesehen habe“. Obwohl der Fotograf vorsichtig war und unbehelligt geblieben ist: „Wichtig war, daß man sich der Grenze aus der richtigen Richtung nähert. Hier wird man permanent beobachtet.“ Wer sich der Grenze nicht wie Clive Shirley von mexikanischem Boden aus nähert, sondern von der amerikanischen Seite kommt, dem schlägt Mißtrauen entgegen, das schnell zur Tätlichkeit werden kann. Shirley hatte Glück im Unglück: Am ersten Tag in Tijuana wurde er, obwohl auf mexikanischem Gebiet stehend, von einem US-Grenzer, der seine „Personalien feststellen“ wollte, über die Grenze gezerrt. Wieder zurück in Mexiko, waren die Prellungen am Handgelenk, die der Fotograf bei dem Übergriff erlitt, so etwas wie ein Passierschein, mit dem sich der Fotograf Respekt verschaffte.