Kunst oder Mühsal?

Zwei neue Bücher über das Reisen in der Frühen Neuzeit, als es weder den Baedeker noch die Dampflok gab  ■ Martin Hager

„Als ob die Natur sich daran gemacht hätte, mit einem Besen den Abfall der Erde aufzuhäufen, um so die Alpen zu bilden.“

Das Zitat eines Reisenden aus dem 17. Jahrhundert zeigt: Die Wahrnehmung der Umgebung ist nicht unabhängig vom jeweiligen Zeitgeschmack. Die Alpen, bei den Romantikern des 19. Jahrhunderts als Inbegriff des Erhabenen gefeiert, gelten in der Frühen Neuzeit als lästiger, überdimensionaler Schutthaufen, der den Weg zum irdischen Paradies der Renaissance, nämlich Italien, versperrt.

Nicht nur die Wahrnehmung der Reisenden, auch das Reisen selbst hat sich im Laufe der Zeit geändert. Was es aber damals tatsächlich bedeutete, unterwegs zu sein, ist nicht so leicht nachzuvollziehen. Diese Wissenslücke zu schließen, sind zwei Bücher angetreten: „Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit 1500–1800“ von Holger Th. Gräf und Ralf Pröve, (bei S. Fischer), und „Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die ,Grand Tour‘“ von Attilio Brilli (bei Wagenbach).

Ein unbestreitbarer Vorteil von Fischer gegenüber dem – preiswerteren – Wagenbach liegt in der Aufmachung. Brillis Buch kann, mag das Bedürfnis auch stark sein, kaum ein zweites Mal gelesen werden. Die Gefahr, daß es auseinanderfällt, ist zu groß.

Auch was die Einbindung der Illustrationen in den Textfluß anbelangt, ist Fischer überlegen. Unter vollem Einsatz moderner elektronischer Satztechnik fließt der Text zum Teil regelrecht um die zahlreichen Bilder herum. Im Gegensatz dazu sind die durchaus eindrucksvollen Gemälde, die Brilli ausgewählt hat, oft so miniaturisiert, daß sich die Kontraste auf dem ohnehin leicht vergilbt gelieferten Papier verwischen.

Einzig bei den Autorenporträts liegt Wagenbach vorn. Gegen den freundlich-nachdenklichen italienischen Philologen – mit schlohweißem Haar – kommen die etwas betreten dreinblickenden deutschen Historiker nicht an.

Soweit zum Äußeren.

Die beiden Bücher handeln ungefähr vom selben Zeitraum, der Frühen Neuzeit. Die Interessen der Autoren sind aber nicht die gleichen. Während „Wege ins Ungewisse“ sich mit allen Formen des Unterwegsseins beschäftigt, konzentriert sich „Als Reisen eine Kunst war“ auf eine ganz bestimmte Form des Reisens, nämlich die touristische:

Im 16. Jahrhundert wurde es in England üblich, junge Männer des Adels auf eine Tour durch Europa zu schicken, zur Vervollkommnung ihrer Bildung und ihres Charakters. Im 18. Jahrhundert kam es, bedingt durch den sozialen Aufstieg der Bürgerschicht, nachgerade zu einer Schwemme von Engländern, die den Kontinent bereisten. Italien war stets Krönung, wenn nicht einziges Ziel der ,Grand Tour‘.

Brilli zeigt den Wandel der Wahrnehmung in dieser Zeit. Während das frühe und mittlere 18. Jahrhundert, das sich der Aufklärung und der Universalität alles Menschlichen verschrieben hatte, Gleichförmigkeit und Ebenmaß in der Natur liebte, war das empfindsame späte 18. und das romantische frühe 19. Jahrhundert an der Individualität, dem Herben, die Seele tief Berührenden interessiert. Daher die plötzliche Begeisterung für die Alpen mit ihren rauschenden Gebirgsbächen und steilen Pässen. Die waren früher nur als lästiges Hindernis empfunden worden, weil man die Kutschen auseinandernehmen mußte, um heil darüber zu kommen.

Eine Kunst war das Reisen insofern, als der sensible Reisende den ästhetischen Geschmack seiner Zeit mit einer Empfänglichkeit für die Reize der Umgebung in Verbindung zu bringen wußte. Diese Kunst, verloren im gegenwärtigen Pauschaltourismus, wiederaufleben zu lassen, ist denn auch der implizite Wunsch des Autors.

Bei Gräf/Pröve liegt der Akzent etwas anders. Sie wollen darstellen, wie es auf Deutschlands Straßen in der Frühen Neuzeit tatsächlich aussah: Wandernde Handwerksgesellen, zukünftige Kaufherren, Kuriere und Boten, Söldnerheere, militärische Werbetrupps, Diplomaten, Vaganten, Deserteure, entlaufene Knechte, ganze Flüchtlingsgemeinden, Studenten, junge Adlige auf Kavalierstour, Wallfahrer, Badereisende, Forschungs- und Bildungsreisende und Schlachtenbummler – alle waren sie auf den meist mehr schlechten als rechten Straßen unterwegs.

Mythologisiert wird die „gute alte Zeit“ von den Autoren nicht. Daß Reisen mühsam war und stets die Gefahr mit sich brachte, nie wieder zurückzukommen, drückt sich in der großen Bedeutung des Abschiednehmens aus. Ein Wiedersehen wurde nicht automatisch vorausgesetzt.

Alles was zum Reisen dazugehört, wird in dem Buch abgehandelt: seien es Menschen, Fortbewegungsmittel oder Unterkunftsarten. Dieser systematische Ansatz hat allerdings den gravierenden Nachteil, daß die Geschichte des Reisens eher aufgelistet denn erzählt wird. Einen Ausgleich dafür bieten lediglich die vielen Originalzitate, insbesondere aus zeitgenössischen Reiseberichten. Die sind so gut, daß man sich fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, gleich einen von ihnen zu lesen. Darin steht nur leider nichts über die Entwicklung, die das Reisen über die Jahrhunderte genommen hat. Und daß die Frühe Neuzeit einen entscheidenden Beitrag zu dessen Fortschritt geleistet hat, ist eine zentrale These von Gräf/Pröve. Wenn auch nicht so offensichtlich wie die Erfindung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert, so haben doch staatliche Reglementierung, Ausbau des Postkutschenwesens und Verbesserung der Straßen zu größerer Schnelligkeit und Sicherheit des Reisens geführt.

Dieser „Fortschritt“ wird allerdings, wie das bei Historikern (und nicht nur bei ihnen) so üblich ist, durchaus zwiespältig bewertet. Mag Reisen früher auch gefährlicher und langsamer gewesen sein, irgendwie schöner, war es damals doch – da hatten die Menschen wenigstens noch Zeit.

Holger Th. Gräf/Ralf Pröve: „Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit 1500–1800“, S.Fischer Verlag 1997, 277 Seiten, 39,80 DM

Attilio Brilli: „Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die ,Grand Tour‘“, Verlag Klaus Wagenbach 1997, 223 Seiten, 22,80 DM