Für ein menschlicheres Theater

Ein Senior des europäischen Regietheaters: Giorgio Strehler ist tot. Sein 1947 gegründetes Piccolo Teatro sollte Volksbühne für eine nichtelitäre Kunst sein  ■ Von Hartmut Krug

Jahrzehnte tourte sie durch die Welt, immer wieder vom Regisseur erneuert: Strehlers Jahrhundertinszenierung von Goldonis „Der Diener zweier Herren“. Ein Stück reinster, menschlicher Komik, ein Stück historischer Commedia dell'arte im Geiste unserer Zeit. Volkstheater, geboren aus der Lust am Spiel, scheinbar ganz ohne Psychologie und Illusion. Die Geschichte vom plebejischen Truffaldino, der sich zwischen zwei Herren schier zerreißt, um seinen hungrigen Magen zu füllen, war eine der Inszenierungen aus der Eröffnungsspielzeit des Piccolo Teatro, das Strehler 1947 mit Paolo Grassi in einem Mailänder Kino einrichtete. Eine Inszenierung, mit der Strehler sofort seinen Regiestil fand. Goldoni im Geiste Brechts – die zwei Säulen von Strehlers Theaterarbeit.

„Immer ging es uns in erster Linie um die Beziehungen des Menschen zur ,Gesellschaft‘ seiner Zeit“, schrieb Strehler über seine Arbeit mit dem Piccolo Teatro, das eine Volksbühne im Sinne einer nichtelitären Kultur sein sollte. Strehler verstand sich als Sozialist, er wollte mit dem Theater nicht die Welt erklären, aber sie durchaus „durchsichtiger“ machen.

Strehler war ein Regisseur der intellektuellen und konzeptionellen, ja wissenschaftlichen Vorarbeit, der dennoch ganz auf die Probenarbeit mit dem Schauspieler setzte. Er gab einen Rahmen vor, in den viel Eigenes der Schauspieler hineinpaßte. Er entwickelte keinen Stil, sondern er las die Stücke von innen, unter Brechts Einfluß. Strehler ist in die Betriebe gegangen, er gab Texte und Bilddokumentationen heraus, er führte offene Proben ein (beim „König Lear“ 1972 sahen vor der Premiere bereits 3.000 Leute zu). Bei Strehler gingen Regie-, Schauspieler- und Ensembletheater eine Einheit ein. Wissenschaftliche Vorbereitung wurde in Spiellust umgesetzt, die Dramaturgie wurde dabei nicht zur Fessel. Strehler hat manche Stücke immer wieder in diesem Sinne neu und auch immer wieder aus dem gleichen Geist inszeniert.

Von der „Dreigroschenoper“ soll Brecht gesagt haben, Strehler habe „das Werk zum zweiten Mal geschaffen: Er hat mein Stück weitergedichtet.“ Strehler hat sich auch theoretisch intensiv mit Brecht beschäftigt und sich dabei immer gegen den epischen Formalismus ausgesprochen. Verfremdung war für ihn mit den Worten des Dichters Ungaretti Poesie: „Das ist das, was die klaren Dinge verdunkelt und die dunklen Dinge klar macht.“

Strehlers Streben nach Poesie verlieh seinen Inszenierungen mit den Jahren allerdings immer mehr einen Lack schillernder Künstlichkei. Strehlers Interesse ging später von Brecht immer mehr zu Max Reinhardt über.

Hatte er noch 1968 ein „freies Theater“ unter dem Namen „Gruppo Teatro e Azione“ gegründet, so kehrte er doch immer wieder zum Piccolo zurück. Auch in den letzten Jahren, als der Streit um das seit 18 Jahren als Baustelle unfertige Haus ihn mit „gebrochenem Herzen“ nach Paris gehen ließ, wo er dann lebte und wo er zuvor von 1983 bis 1989 das Europatheater geleitet hatte, ein Gastspieltheater für Bühnen aus ganz Europa. Strehlers Theater war nie so derb und direkt wie das von Dario Fo, es war immer ein in Glanz eingekleidetes Theater. Kein Wunder, daß ihm sowohl nach Piscators Tod die Intendanz der Berliner Freien Volksbühne als auch 1974 die Direktion des Wiener Burgtheaters angetragen wurden – auch die Theaterleiche des Berliner Ensembles nach Müllers Tod versuchte ihm mancher hinterherzutragen.

Strehler schuf bedeutende Inszenierungen von Tschechows „Kirschgarten“, von Pirandellos „Riesen vom Berge“ und von Brechts „Galilei“. Sein ehrgeizigstes und nicht unbedingt überzeugendstes Projekt war ab 1989 Goethes „Faust Teil I und II“ am Piccolo in Strehlers eigener Übersetzung, mit ihm als Regisseur und Hauptdarsteller. Strehler hat an allen großen Häusern Europas gearbeitet, an der Wiener Burg wie an der Mailänder Scala, er hat zuletzt oft Opern inszeniert. Sein Weg zum großen Spektakel, mit Brechts Realismus zu einem glatten Realismus des ästhetischen Scheins, ist noch nicht genauer untersucht worden. Eine Auseinandersetzung mit Strehlers Schaffen könnte im beginnenden Brecht-Jahr von anregendem Nutzen sein.