„Ist es jetzt zu Ende?“

■ Einfallslos und vernuschelt: rudimentäre Reste großer russischer Ballettkunst / Zwei öde Abende in der Glocke

„Die Ballettgeschichte in Rußland, letzten Endes in der ganzen Welt, hätte ohne Tschaikowskis „Dornröschen“einen anderen Verlauf genommen. Die Compagnie des Balletts Russes selbst hätte niemals das Licht der Welt erblickt, wenn Dornröschen in uns nicht eine unwiderstehliche Begeisterung, eine Art Delirium erweckt hätte.“Dies sagte einer der wichtigsten russischen Choreographen am Anfang dieses Jahrhunderts, Alexander Benoit. 1890 uraufgeführt, hat das Ballett von Peter Tschaikowski noch immer eine Anziehungskraft, die nun am ersten Weihnachtsfeiertag die Glocke füllte. Mit dem Auftritt des St. Petersburger Staatsballetts meinte man sicher auch, die InterpretInnen garantierten sozusagen Authentizität. Schließlich wurde die originale Choreographie von Marius Petipa versprochen. Es ist in den großen Choreographien der Ballettgeschichte üblich, sich immer wieder auf sie zu beziehen – und sie neu zu beleben. Aber Nikita Dolguschin hat sich hier mit seiner Bearbeitung nicht die mindeste Mühe gemacht, Dornröschen in ein einigermaßen sinnvolles zeitgenössisches Theater zu verwandeln. Im Gegenteil: Die Stereotypie der virtuosen Bewegungen und Sprünge – jede, aber auch wirklich jede war vorhersehbar – verhinderte die Erfassung der besonderen Dramatik.

Im zweiten Bild sieht Prinz De-sire die schlafende Prinzessin als eine Vision. Dies wurde so plump als glücklicher Pas de deux getanzt, daß nicht wenige fragten: „Ist das Stück jetzt zu Ende?“Zwischen der gekonnten Akrobatik und dem damit erreichten (Nicht)-Ausdruck taten sich unüberwindliche Klüfte auf. Die Bewegungen ebneten keine Wege zu inneren Vorgängen. Belanglose Unterhaltung blieb übrig. Was nützt es da, daß die Primaballerina Tatjana Kottschenko und Juri Andrejew technisch ebenso atemberaubende TänzerInnen sind wie einige ihrer berühmten VorgängerInnen – Anna Pawlowa oder auch Rudolf Nurjew. Zu oft schien es, daß sie nicht wissen, was sie tun. Und auch der Choreograph hatte keine Idee, wie eine akademische Ballettbewegung dramaturgisch sinnvoll einzusetzen wäre.

Zwei Tage vorher. Vom Ballettensemble der Nationaloper Sofia: Nußknacker, ebenfalls von Tschaikowski und Marius Petipa, der wegen Krankheit die Vollendung seiner Arbeit an Lew Iwanow abgeben mußte: diese Fassung hat die Bühnen der Welt ebenso erobert wie Dornröschen. Aber auch hier in der Einrichtung von Hikmet Mehmedov: eine heillose Bewegungsgleichmacherei, die die psychoanalytischen Dimensionen dieses Traumes, die Unterschiede zwischen Puppen und Menschen, noch nicht einmal erahnen läßt. Maria Brissonskaja und Rossen Kanev strahlten sich ergebnislos an, sprangen immer höher – und konnten immer weniger erzählen.

In beiden Fällen waren einfallslose Stoffetzen als Ersatz für ein Bühnenbild und eine vernuschelte Lichtregie weitere Killer des erwarteten traditionellen Kunstgenusses. Diese beiden durchaus renommierten Aufführungen haben nichts anderes gezeigt, als daß die Verweigerung einer zeitgenössischen Interpretation zu einem anachronistischen, wenn nicht gar lächerlichen Ergebnis führt.

Ute Schalz-Laurenze