"Sie war einfach da"

■ Jackie O. war Präsidentengattin und heiratete den reichsten Mann der Welt. Jackie, die Oper, stilisiert sie zur Ikone. Komponist Michael Daugherty über Amerika und Avantgarde

Was verbindet Sie mit Jackie Onassis?

Michael Daugherty: Als ich noch ein Kind war, sah ich im Fernsehen die Beerdigung von John F. Kennedy. Das war eines der wenigen Male, daß ich meine Mutter weinen sah. Als Jackie Kennedy vier Jahre später Onassis heiratete, war sie sehr wütend. Als Kind konnte ich nicht verstehen, warum sie beim einen Mal soviel Mitleid mit Jackie hatte und sie ein paar Jahre später so haßte.

Es geht um große Gefühle?

Jackie O. dient als Ikone. Sie ist jemand, der sein Leben lang zur falschen Zeit am falschen Platz ist. Sie sagte nichts, sie machte nichts Wichtiges, sie war einfach da und hat einige tragische Dinge erlebt. Von ihr ist bekannt, daß sie die Frau eines amerikanischen Präsidenten war und später den reichsten Mann der Welt heiratete. Darüber hinaus ist sie ein unbeschriebenes Blatt. Jackie O. als Person gibt es nicht.

Und deshalb ist sie die Leinwand für alles?

Es erlaubte mir als Komponisten und dem Librettisten Wayne Koestenbaum, Jackie als Hintergrund eines Stücks zu nehmen, in dem wir unserer Liebe zur populären Kultur der 60er Jahre nachgehen können. Wayne dachte sich das als feministische Oper. In den normalen zeitgenössischen Opern ist die Frau ein Opfer. Sie wird getötet, sie hängt sich auf. Oder wenn der Mann ein Verbrechen begangen hat, bezahlt die Frau für das Verbrechen. In unserer Oper bleibt Jackie aber oben. Sie überlebt den Mord. Dann beschließt sie, Onassis zu heiraten, und später, ihn zu verlassen. Sie überlebt auch den Mord an Bobby Kennedy. Am Ende entschließt sie sich, daß sie nach Amerika geht und ihr eigenes Leben lebt. Das ist ungewöhnlich für eine Oper. Ich wollte mit Jackie O. etwas Schockierendes komponieren.

Weshalb zitieren Sie dann die Formensprache von Hollywood, Las Vegas und dem Broadway?

Es wäre sicherer gewesen, das Stück in der dissonanten, abstrakten und konventionellen Avantgardesprache zu schreiben. Das hätte den Kritikern gefallen, denn es hätte den Status quo bestätigt. Aber für mich wäre es lächerlich gewesen, wenn Leute in dieser Umgebung Musik singen, die nach Boulez oder Stockhausen klingt. Wir sind ja in den 60ern, bei Andy Warhol und all den Dingen.

Zu Andy Warhol gehören aber auch der Drone von Velvet Underground und der konsequente Minimalismus von La Monte Young. Warum zitieren Sie diese Künstler nicht? Und warum verfremden Sie die populären Genres kaum?

Als Jugendlicher habe ich nie Velvet Underground oder La Monte Young gehört. Heute kenne ich deren Musik natürlich. Aber Rockmusik sind für mich James Brown, Blood, Sweat And Tears oder die Musik von Woodstock. In Avantgardezirkeln wird Popmusik nur akzeptiert, wenn man sie zynisch benutzt oder einen politischen Anlaß hat. Wenn man sie in einem anderen Kontext verwendet, wird das für naiv gehalten. Ich finde es nicht zynisch, Popmusik zu benutzen.

Sie haben zwei Jahre bei Georgy Ligeti in Hamburg studiert...

Ich war in Ligetis Meisterklasse und redete mit den Leuten über die Ästhetik der Avantgardemusik. Andererseits lebte ich davon, daß ich nachts in den Jazzklubs und Nachtklubs von Hamburg Barpiano spielte. Einer dieser Jazzklubs war Dennis Swing Club. Vor meinem ersten Auftritt suchte ich ihn auf der verkehrten Straßenseite. Dort sah ein Haus wie ein netter Klub aus, war aber ein Bordell, für das sie 200 Dollar Eintritt verlangten. Die lachten und sagten, Dennis Swing Club sei gegenüber. Aber ich dürfe gern bleiben. Nur war ich pleite. Während dieser Zeit freundete ich mich auch mit Marcus Stockhausen an, dem Sohn von Karlheinz Stockhausen. Marcus verwendete Rock 'n' Roll-Instrumente und versuchte, Avantgarde- Improvisationen zu machen. Bei einigen dieser Gigs, bei denen auch Marcus' Bruder Simon mitmachte, spielte ich Klavier und Synthesizer.

Was lernten Sie von Ligeti?

Ich lernte, moderne Musik zu schreiben. Er erklärte die Avantgardemusik für tot. Die Zeiten von Boulez und den anderen seien vor allem für junge Komponisten beendet. Jemand wie ich aus Amerika sollte sich dem Rock 'n' Roll und dem Jazz als Quelle der Inspiration zuwenden. Er ermutigte mich, das zu machen und auch Elektronik in der Komposition zu benutzen. Seit „Midi“ rauskam, benutzte ich ja Computer, Synthesizer, Sampler und das ganze Zeug zum Komponieren. Daheim komponiere ich all meine Musik in einem großen Studio und kann die Musik sofort in einer Sampleversion anhören. Außerdem habe ich ein Yamaha-Disclavier. Für mich sind das großartige Kompositionswerkzeuge.

Sie haben Stücke geschrieben, in denen es um Superman und seinen Gegenspieler Bizarro, Elvis Presley, den ehemaligen FBI-Chef J. Edgar Hoover und eben Jackie Kennedy/Onassis geht. Warum wählen Sie nicht die durchschnittliche Biographie von jemandem auf der Straße?

Sie sind Metaphern für bestimmte Zeiten oder Gefühle. Außerdem: In Amerika gibt es immer noch kaum Raum für avantgardistische oder moderne Musik. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Öffentlichkeit weiß überhaupt etwas von zeitgenössischer Musik. Im Radio oder Fernsehen hören die Leute fast nichts über zeitgenössische Musik. Das ist, als ob sie in unserer Kultur nicht existieren würde. Ich entschloß mich deshalb, Stücke zu schreiben, die etwas ausdrücken und ihren Hörern einen Zugang zu meiner Arbeit anbieten. Indem ich eine Ikone wie Jackie O. verwende, reagieren die Leute mit ihren Gefühlen auf ein Werk, auch wenn sie auf der musikalischen Seite nicht verstehen, was geschieht, weil das zu komplex oder auf eine bestimmte Art zu modern ist. Meiner Ausbildung als Komponist bleibe ich treu, indem ich ein Leitmotiv verwende, von dem fast alle Melodien in der Oper abgeleitet sind. Dieses Thema wird in eine Jazzumgebung, eine Rockumgebung und eine Opernumgebung gebracht. Damit habe ich etwas, was das Werk musikalisch zusammenhält.

Ist die Tonsprache der bisherigen zeitgenössischen Musik oder des Minimalismus für Sie völlig abgehakt?

Steve Reich oder Philip Glass kommen aus der puren modernistischen Ästhetik der 60er Jahre. Sie ist der Ästhetik der Zwölftonkomponisten sehr ähnlich, denn sie ist sehr rein. Aber diese Jungs sind jetzt auch um die 60 Jahre alt. Hören Sie sich ihre Musik an: Der Einfluß der populären Musik ist sehr abstrakt. Ich bin 20 Jahre jünger als die Minimalisten, und ich bin kein Purist. Im Fernsehen kann ich zwischen Hunderten von Kanälen wählen. Das will ich auch in der Musik. Meine Musik spiegelt die Gegenwart, in der sich alles dreht und wendet.

Wie kamen Sie zu Ihrer Art von Fusion?

Ich wuchs in Amerika auf. Als Jugendlicher spielte ich in Rock- und Jazzbands. In meiner Kindheit existierte die klassische Musik fast nicht. Country & Western, Rock, Jazz und Dixieland lagen in der Luft. Die hörte man in Nightclubs, im Fernsehen, bei Parties und im Radio. In den 60ern spielte nur der Sender der University of Iowa hin und wieder klassische Musik. Das hat sich glücklicherweise durch die öffentlichen Radiostationen ein wenig geändert. Erst als ich ans College kam, hörte ich den Klang eines Orchesters. Das war 1972 „Le Sacre du Printemps“ mit dem Dallas Symphony. Ich mochte den Klang des Orchesters auf Anhieb und wollte sofort für Orchester schreiben. Um diese Zeit begann ich mich für klassische Musik zu interessieren. Wichtig war auch die Verbindung von Klassischem und Rockmusik. Das begann in London mit Deep Purple und Genesis. Auch Frank Zappa ging rüber und machte mit dem London Symphony Aufnahmen.

Wer U und E nicht konsequent vermischt, ist von gestern?

Nehmen Sie zum Beispiel amerikanische Trompeter: Die meisten beherrschen drei Arten von Musik. Sie spielen nicht nur im Orchester, sondern auch Rock und Jazz. Für Musiker sind die Welten nur durch die Art des Jobs getrennt, den er erhält. Wenn ich in meiner Partitur „Espressivo“ schreibe, stellen sich die Leute verschiedene Dinge vor. Wenn dort aber als Anweisung à la Coltrane, à la Doris Day oder à la Jimi Hendrix steht, können sich die Musiker etwas vorstellen. In dem Teil „Smashes Camera“ schrieb ich über den Gitarrenteil „Surf Guitar“. Gut an Amerika ist, daß man eine Menge Freiheit hat, weil sich keiner um dich kümmert. Deshalb gibt es so viele Arten von Musik, so viele Ästhetiken und so viele Sounds. Bei den Darmstädter Tagen für Neue Musik hatte ich dagegen das Gefühl, ich habe keine Freiheit. Da mußte man alles auf eine bestimmte Art machen. Hält man eigentlich in Deutschland Operetten für Kitsch?

Durchaus.

Das ist ein wichtiger kultureller Unterschied. In Amerika hält man die Musicals von Stephen Sondheim oder Rogers/Hammerstein für hochwertige Kunstwerke. Opern wie „Porgy and Bess“ und die „West Side Story“ stehen auf höchstem Niveau und sind gleichzeitig die Popmusik ihrer Zeit. Ich erinnere mich an Charles Ives, der Stücke aus der Kirche und Folksongs benutzte und daraus zeitgenössische Musik machte. Viel zu oft hält man es für naiv, wenn jemand über Gefühle in der Musik spricht. Ich sehe gern in meine Vergangenheit zurück. Da gibt es Erinnerungen und Gefühle, und irgendwann beginne ich, Musik zu hören. Als nächstes schreibe ich ein Stück über die Route 66. Ich bin diesen Highway als Kind einige Male runtergefahren. Was kann es Schöneres geben, als diese Straße in einem Cadillac von 1959 runterzufahren?

Auf welche Bühne wird das gebracht?

In 20 Jahren werden wir wesentlich mehr Werke sehen, die in Kabaretts oder in Opernhäusern gemacht werden können. Das ist mein Traum. Interview: Werner Stiefele