In Kabul betteln die Menschen

Hunger und Verzweiflung prägen das Leben in der afghanischen Hauptstadt, die von den Koranschülern beherrscht wird. Selbst unter den Russen ging es den Leuten besser  ■ Aus Kabul Ahmad Taheri

Die Berge rund um Kabul sind weiß verschneit. In der afghanischen Hauptstadt regnet es ununterbrochen. Scharen von Kindern lungern im Schlamm der Straßen. Bekleidet sind sie mit langem Hemd und Pluderhose. Der durchnäßte Stoff klebt an den mageren Leibern. „Bakschisch!“ bedrängen sie den fremden Besucher. „Mister“, sagt ein kleiner Junge mit ausgemergeltem Gesicht und uralten Augen, „kauf mir ein Brot!“

Der Junge heißt Bahram und ist acht Jahre alt. Sein Vater wurde vor ein paar Jahren im Basar von einer Granate getroffen. Vor dem Einmarsch der Taleban, der Koranschüler, sorgte die Mutter, die als Köchin in einem Krankenhaus arbeitete, für ihn und seine beiden Schwestern. Seit die neuen Herren den Frauen alle Erwerbstätigkeit verboten haben, muß Bahram für die Familie sorgen. Selbst junge Männer und verschleierte Frauen bitten um eine milde Gabe.

In den vergangenen Jahren sah man selten bettelnde Menschen. Das verbietet das afghanische Ehrgefühl. Doch der Stolz ist dem Hunger gewichen. Ein gutes Jahr nach der Eroberung Kabuls durch die Taleban ist die Stadt nur noch ein Haufen Elend und Verzweiflung. Wer das nötige Geld besaß, hat das Weite gesucht. Ohne Hilfe der internationalen Organisationen, vor allem des Roten Kreuzes, wären die Bewohner der Stadt längst verhungert. „An eurer Lage“, tönt allabendlich der afghanische Radiosender Stimme der Scharia, „sind nur die Feinde des Islam schuld. Nach dem Sieg des Dschihad wird alles anders.“

„Die Taleban sind Bienen ohne Honig“, sagt Emaduddin. Der 42jährige Paschtune ist Lehrer. Seit vier Monaten hat er, wie die meisten Beamten, kein Gehalt bekommen. Alles Geld fließt in die Kriegskasse. Doch Emaduddin hat großes Glück. Seit kurzem arbeitet er in einer Kebab-Bude, die einem Verwandten gehört. Der Vater von sechs Kindern verdient bei seinem neuen Job pro Monat 200.000 Afghanis, also umgerechnet etwa acht Dollar. Dabei kostet ein kleiner Laib Brot, die Hauptnahrung der Kabuler Bevölkerung, allein schon 1.000 Afghanis.

In den letzten Monaten hat der Lehrer all seine Habseligkeiten nach und nach zum Markt getragen. Das letzte Mal, als er seinen Videorecorder verkaufen wollte, wurde er von den Sittenwächtern der Taleban erwischt. „Sie schlugen mich mit Gewehrkolben und nahmen mir den Apparat weg.“ Für die Taleban sind Fernseher und Videorecorder Teufelszeug.

Die Sittenwächter mit schwarzem Turban fahren mit ihren Pritschenwagen durch die Straßen. Auf ihrem weißen Banner steht das islamische Gebot „Das Erlaubte empfehlen und vom Verbotenen abraten“. So heißt auch das neu eingerichtete Amt, dem sie angehören. Sie sorgen für die Einhaltung der Scharia, des islamischen Rechts. Das wache Auge der Scharia richtet sich vor allem auf die Frauen. Wer mit unverhülltem Gesicht erwischt wird, was heute kaum noch vorkommt, wird an Ort und Stelle mit Peitschenhieben bestraft. „Für diese Wilden sind die Frauen weniger wert als ein Hund“, flüstert ein Student an der Kabuler Universität. „Ich habe gesehen, wie eine Frau zusammengeschlagen wurde, als sie in einem Laden ihren Schleier hochhob, um ein Eis zu essen.“

Nur zum Einkaufen können die Frauen das Haus verlassen. Inzwischen dürfen sie nur noch ein einziges Krankenhaus aufsuchen. Das Hospital Rabi'a Balchi hat nur 45 Betten. Dabei gibt es in Kabul fast eine halbe Million Frauen, von denen viele an Krankheiten wie etwa Tuberkulose leiden. „In diesem häßlichen Zementbunker“ sagt Schwester Martha, „fehlt es an den nötigsten Instrumenten selbst für einfache Operationen.“ Die Diakonissin aus Deutschland, die beide Sprachen des Landes, Farsi und Paschtu, fließend beherrscht, arbeitet seit 37 Jahren in Pakistan und Afghanistan.

Von der Scharia sind auch die Männer geplagt. Werden sie ohne Turban oder eine andere Kopfbedeckung gesehen, schneidet man ihnen in der Öffentlichkeit die Haare ab. Wer seinen Bart mit der Schere stutzt, bekommt zehn Peitschenhiebe auf die Handflächen. In Pol-e Dscharkhi vor den Toren Kabuls, wo sich das Zollamt befindet, stoppt ein bärtiger Mann mit Kalaschnikow unseren Kleinbus. Drei Sittenwächter besteigen das Fahrzeug. Der fremde Besucher mit rasiertem Kinn wird in Ruhe gelassen, nachdem er sich als Deutscher ausgewiesen hat. Doch in der hintersten Reihe wird ein Hizara entdeckt, dem, wie den meisten seiner Stammesgenossen, die mongolischer Herkunft sind, nur ein spärlicher Bart wächst. Die Häscher von „Das Erlaubte empfehlen und vom Verbotenen abraten“ zerren ihn aus dem Bus. „Gott hat mir keinen Bart gegeben“, jammert der schmächtige Mann. Sein Flehen nutzt ihm nichts. In der Scharia sind ethnische Eigenheiten nicht vorgesehen. Zwei Männer halten ihm die Hände fest, der dritte schlägt ihn mit einem breiten Lederriemen fünfmal auf die rechte und fünfmal auf die linke Hand. Eine Gruppe von Taleban hockt am Straßenrand, schaut zu und amüsiert sich. Für die Paschtunen, die sich als Herrenvolk Afghanistans betrachten, sind die Hizara fast Untermenschen.

Als der Bus weiterfährt, hat sich der Hizara unter einer Decke verkrochen. Gepeitscht zu werden ist für einen Afghanen die schlimmste Art der Erniedrigung. „Da sehen Sie, was sie mit den Menschen machen“, sagt leise ein älterer Mann, der in Kabul bei einer Hilfsorganisation arbeitet. „Nicht einmal die gottlosen Russen haben so etwas getan, und diese Leute beten fünfmal am Tag zu Gott, dem Barmherzigen.“

Als am 27. September 1996 die Taleban in die afghanische Hauptstadt einmarschierten, war in Kabul nicht nur Furcht, sondern auch Erleichterung zu spüren. Bei vielen galten die paschtunischen Eiferer aus der südafghanischen Stadt Kandahar als Boten des Friedens. Doch mit ihrem Steinzeitfundamentalismus, garniert mit paschtunischem Dünkel, vermochten die Taleban die Kabuler Bevölkerung, die in diesem Jahrhundert eine gewisse städtische Kultur erlebt hatte, nicht für sich zu gewinnen. Aus ihrer Abneigung gegen die „Südler“, wie die Taleban genannt werden, machen die Kabuler keinen Hehl. „An einem Weidenbaum wächst kein Apfel“, sagt Emaduddin, der Lehrer und Kebab-Verkäufer. Doch der Unmut der Bevölkerung läßt die paschtunischen Sieger kalt. Die Zeloten verlassen sich auf Peitsche, Kalaschnikow und auf die Scharia. „Kabul ist ein krankes Kind, angesteckt vom Kommunismus bis ins Knochenmark!“ ruft der Freitagsprediger auf der Kanzel in der Hauptmoschee. „Wir verabreichen ihm eine bittere Pille, und es weiß nicht, daß sie heilsam ist.“

Im letzten Jahr sind in Kabul ein halbes Dutzend neuer Gefängnisse errichtet worden. Auch der berüchtigte Kerker Pol-e Dscharkhi ist wieder in Betrieb. Zu Zeiten der russischen Besatzung von Ende 1979 bis Februar 1989 saßen hier Zehntausende der muslimischen Widerstandskämpfer. Nach dem Sieg der Mudschaheddin im Frühjahr 1992 wurde die Haftanstalt als ein „Schandmal des Kommunismus“ geschlossen. Der Gefängnisdirektor Moulawi Ghiasuddin sitzt im Schneidersitz in seinem Büro, einer Lehmhütte vor der hohen Gefängnismauer. Der stämmige Paschtune mit dem selbstgefälligen Lächeln hält ein langes, breites Lineal aus Holz in der Hand wie das Zepter der Macht. Moulawi Ghiasuddin ist 31 Jahre alt. Er wurde im pakistanischen Quetta in einer der zahlreichen Koranschulen ausgebildet, die vom saudischen Königreich finanziert werden. Er kenne die Heilige Schrift auswendig, prahlt der Paschtune. Warum hat man dann ihn, einen Schriftgelehrten, zum Gefängnischef gemacht? – „Weil ich ein barmherziger Mensch bin und die Gefangenen nicht totschlage“, sagt er mit breitem Grinsen und zwinkert seinem Stellvertreter zu.

Im Gefängnishof von Pol-e Dscharkhi sitzen die Häftlinge und essen Brot und kalten Reis. Der Direktor gibt ihre Zahl mit 807 an. Meist sind es ältere Männer. Fast alle sind Farsiwan, persisch sprechend, wie die Hizara und Tadschiken in Afghanistan genannt werden. Die Taleban sehen in diesen beiden Volksgruppen mögliche Kollaborateure mit dem Feind. Genau genommen sitzen die Männer in Präventivhaft. Sie wurden im Oktober 1996 aus ihren Dörfern im Norden Kabuls verschleppt, damit sie den Taleban bei ihrem Vormarsch nicht in den Rücken fallen. „Ich habe nichts getan“, sagt ein betagter Mann. „Sie haben uns aus unseren Häusern geholt.“ „Er lügt“, sagt der Direktor. „Der Lump hat auf die ehrwürdigen Taleban geschossen.“ – „Ich habe nie ein Gewehr gehabt“, erwidert der Greis. „Glauben Sie mir oder diesem Räuber?“ will der Direktor wissen. „Nur Gott weiß Bescheid“, antwortet der Besucher diplomatisch.

„Ich wünsche mir von Gott 40 Söhne, damit sie in den Dschihad ziehen“, sagt der Direktor zum Abschied. Wird der Krieg in Afghanistan so lange dauern? „Wenn Afghanistan gewonnen ist, geht der Dschihad weiter.“ Auf die Taleban warteten Kaschmir, Palästina, Bosnien und vor allem Samarkand und Buchara.

Vor einem halben Jahr standen die Taleban nicht weit von Samarkand und Buchara, den berühmten Stätten des Islam in Usbekistan. Im Mai marschierten einige tausend Kandahari in Mazar-e Scharif, der Hauptstadt der Anti-Taleban-Allianz, ein. Von dort bis zum Amu Darja, dem Grenzfluß zwischen Afghanistan und den muslimischen Staaten des einstigen Sowjetreichs, ist es nur eine Stunde Autofahrt. Abdulmalek, ein verräterischer General, hatte für viel Geld und das Versprechen, zum Herrn des Nordens gekürt zu werden, den Taleban die Stadt übergeben. Der bis dahin mächtigste Mann des Nordens, General Abdulraschid Dostam, suchte das Weite und begab sich ins türkische Exil. Doch als die siegestrunkenen Paschtunen versuchten, die Wahdat, die Kampfgruppe der Hizara, zu entwaffnen, kam es zu heftigem Widerstand, der in eine Volkserhebung mündete.

„Die Taleban wurden wie Fliegen niedergemacht. Überall in der Stadt lagen ihre Leichen“, erzählt ein Zeuge. Auch aus anderen Gebieten des Nordens wurden die Taleban zurückgeworfen. Im Triumph kehrte General Dostam zurück und übernahm erneut die militärische Führung. Die Kräfte der nördlichen Allianz sind zwar zerstritten, und ihre Führer sind auf ihren eigenen Vorteil bedacht, wenn es aber darum geht, dem Vormarsch der Paschtunen Einhalt zu gebieten, sind sie sich einig.

Haben sich die Taleban mit der Teilung abgefunden? Seit kurzem heißt ihr Reich, das zwei Drittel des Landes umfaßt, nicht mehr „Islamische Regierung Afghanistan“, sondern „Islamisches Emirat Afghanistan“. Das Gerede von der Teilung sei Unsinn, sagt Abbas Stanakzoi, stellvertretender Außenminister in Kabul. „Unser ehrwürdiger Führer, Mullah Muhammad Omar al-Mudschahed, ist der Emir der Gläubigen. Und einem Emir gebührt selbstverständlich ein Emirat.“