Hauptsache Bewegung

In München zeigt eine Retrospektive zu den wichtigsten Mitgliedern der 1948 gegründeten Künstlergruppe Cobra, wie das Umherschweifen zu Bildern wurde  ■ Von Henrike Thomsen

Hätten sie sich Doris oder Isabelle genannt, sie hätten es nie so weit gebracht. Klugerweise ersannen die jungen europäischen Künstler, die sich im November 1948 um den dänischen Maler Asger Jorn und den belgischen Dichter Christian Dotremont sammelten, etwas anderes. Cobra verspricht Abenteuerlicheres als eine Dauerwelle im Frisiersalon um die Ecke. Daß die anderen Namen (von Dotremonts verflossenen Liebschaften) jedoch ernsthaft in Betracht gezogen wurden, offenbart die Not der Stunde Null: Ein Name mußte her. Irgendeiner. Ein Markenname. Für irgendeine Bewegung.

Mit rund 200 Arbeiten (darunter von Jorn, Dotremont, Karel Appel, Constant, Corneille, Pierre Alechinsky, Ejler Bille, Henry Heerup und Serge Vandercamp) zeigt die Retrospektive in der Münchner Hypo-Kunsthalle, wie heterogen die Arbeiten der führenden Cobristen blieben. Unter dem dünnen und nicht eben originellen theoretischen Firnis, den Jorn auftrug – Kunst müsse sich durch die Rückbesinnung auf „archaische“ und kindliche Ausdrucksformen verjüngen –, kommt die Antiprogrammatik Dotremonts zum Vorschein. Das „Ablehnen jeder Methode und die Freiheit der Betrachtung“ einte für ihn die Gruppe – „selbstverständlich mit unseren jeweiligen persönlichen Vorlieben innerhalb des großen naturgegebenen Dispatchings, das bereits unsere große natürliche Begegnung hatte“. Die Cobra-Periode sei „von konstanten Anhaltspunkten übersät, Treffpunkten, Orten der Kontaktaufnahme, Heimstätten der Intensität. Kein einziger starrer Punkt: sich kreuzende Flugbahnen“, schreibt Richard Miller im Katalog. Die neue Qualität von Cobra liegt darin, daß es sich um ein Netzwerk handelt. Sein password läßt sich nach der geografischen Herkunft der Führungselite (COpenhagen, BRüssel, Amsterdam) entschlüsseln. Im Mittelpunkt stehen Arbeitstreffen und gemeinsame Ausstellungen, die den Mitgliedern durch Kontakte und Synergieeffekte ein Fortkommen ermöglichen sollen.

Das Bestreben, die Gebiete der modernen Stammeshäuptlinge von Kandinsky bis Breton zu verlassen und die eigenen Claims abzustecken, wird begrenzt durch einen eigentümlichen expressionistischen Zwang zur Bewegung an sich. Das rastlose Herumreisen von Jorn und Dotremont, das dazu dient, neue Mitglieder zu werben und Ausstellungsmöglichkeiten zu erschließen, ist der reinste Ausdruck dieser neuen Kunstform. Jorn und Constant sollten einige Jahre später zu den Begründern der „Internationalen Situationisten“ gehören, die das Umherschweifen (dérive) als künstlerische Subversionsstrategie proklamierte.

Spurensuche in einer kriegsblinden Welt, Wachstum in Zeiten der Entwurzelung – schon bei Cobra läßt sich die Suche nach Orientierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten als heimliches Band ausmachen. Dotremont spürte, wie sein Zeit- zugunsten des Raumgefühls schwand. Mit seiner „großen natürlichen Bewegung“ wollte er sich eine Welt jenseits der katastrophalen historischen Wirklichkeit verschaffen. Dieses Projekt mißlingt: Cobra ist ein Kurzschluß der Mitglieder zwischen 1948 und 1951. Die Intensität ihres Kontakts strahlt jedoch auf ihre weitere künstlerische Entwicklung fort, so daß die Entscheidung der Kuratoren gerechtfertigt ist, jeweils auch spätere Arbeiten zu zeigen.

Nur Constant unternimmt in seinen Bildern den Versuch einer historischen Vergangenheitsbewältigung. Drei Bilder von 1948 („Satyr“, „Ich habe die Eisbären besucht“ und „Ins Netz gegangener Vogel“) halten einen Augenblick namenloses Entsetzen fest. Ein einzelnes starres Auge blickt als bösartiges Gestirn herab wie die „Schwarze Sonne“, die Filmregisseur Claude Lanzmann als Metapher für das Unheil von Auschwitz prägte. Auch in „Konzentrationslager (Krieg)“ von 1950 und „Verbrannte Erde III“ (1951) ist Constant den Bildwelten Lanzmanns und Celans nahe.

In Appels frühen Bildern versperrt wiederum die schwarze Hintergrundfarbe den Bildinsassen den Ausgang. Echse, Eule, Hund, Stier kleben frontal an der Farboberfläche, eingefangen in possierlich wirkenden Posen. Später schafft sich Appel als einziger der ausgestellten Maler auch einen Zugang zur Farbe in ihrer Materialität. Für Jorn und Corneille hingegen bleibt sie nur optisches Medium. Ihre interessantesten Arbeiten versuchen dabei, dem Bild eine Vergangenheit oder eine falsche Identität zu verschaffen. Letzteres geschieht, wenn sie ihre Ölgemälde aussehen lassen wie Kreidezeichnungen. Bei Jorn läßt sich beobachten, wie der bewußte formgebende Gestus abgelöst wird von einem Überschichtungsprinzip. Auf diese Weise entsteht ein eigentümlicher organischer Effekt, der auch den Skulpturen Heerups oder Vandercams/Dotremonts anhaftet.

Die interessanteste Figur bleibt letztlich Dotremont. In seinen „Logogrammen“ ließ er in den sechziger Jahren sein konzeptuelles, poetisches und bildnerisches Talent zusammenlaufen, genauer gesagt: Sie verlaufen sich in Tuscheformen, die die Betrachterin rätseln macht. Handelt es sich um Vogelspuren? Altchinesische Pergamente? Insekten auf der Windschutzscheibe? Eingestreut finden sich französische Texte. Man müsse versuchen, wie die Bäume zu denken und wie die Blätter zu schreiben, heißt es da. Oder: „...le passé 1956 redevenu immédat 1973 aussi bien qu'aujourdhui 1976, dans le même désordre d'échancrures de neige, aujourd'hier de la nuit qui s'abime dans un folie brève de soleil ininterrompu...“ (...die Vergangenheit von 1956, 1973 so unmittelbar präsent wie heute 1976, in der gleichen Unordnung von Schneezeichen, gesternzutage die Nacht, die sich in einem kurzen Wahn ununterbrochener Sonne auftut...) 1979 lief Christian Dotremonts Zeit ab.

Cobra, bis 11. 1., Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München; ab 29. 1., KunstHaus, Wien. Katalog, Hirmer Verlag, 42 DM