: Menschenrechte am Tag X3 im Wendland
Der „Erkundungsbericht“des ersten „Gorleben International Peace Team“liegt jetzt vor – und dokumentiert auch die Schwierigkeit, neutral zu bleiben ■ Von Heike Dierbach
Scott Shiveley gerät noch heute in Rage, wenn er vom Tag X3 im Wendland erzählt: „Es war nicht zu glauben, daß eine Regierung das ihrer eigenen Bevölkerung antut“, berichtet der Amerikaner. „In den USA haben wir ein Bild von einem liberalen Europa. Und dann diese Gewalt von seiten der Polizei.“Der 25jährige Geologe und Umweltwissenschaftler war im vorigen Frühjahr Koordinator des ersten „Gorleben International Peace Team“(GIPT).
Sechs Freiwillige aus Ecuador, Nigeria, Mazedonien und den USA waren für drei Wochen ins Wendland gekommen, hatten beobachtet, fotografiert, mit DemonstrantInnen und der Polizei gesprochen. Ihre Erkenntnisse über die Ereignisse während des Castor-Transports vom Bahnhof Dannenberg zum Atommüll-Zwischenlager Gorleben am 4. und 5. März haben sie jetzt in einem 40seitigen Bericht veröffentlicht: The World is Watching – Ein internationales Menschenrechtsteam im Wendland.
„Die Vorstellung, daß die ,freien Demokratien' Europas keine Menschenrechtsprobleme haben, ist falsch“, stellt der Bericht gleich auf den ersten Seiten fest – und liefert auf den folgenden die Beweise: Schlagstockeinsätze und Wasserwerfer gegen friedliche SitzblockiererInnen, verletzte DemonstrantInnen und JournalistInnen, Behinderung von Rettungsfahrzeugen durch die Polizei. „Unser Augenmerk galt der Interaktion zwischen DemonstrantInnen und Polizei“, erläutert Scott Shiveley die Arbeit des Teams, „wir wollten wissen, was dazu beiträgt, daß ein Konflikt eskaliert oder deeskaliert.“
In einem fünftägigen „Training“bereiteten sich die Freiwilligen vor, sprachen mit der Bürgerinitiative, dem Gorlebener Ermittlungsausschuß und der Polizei. Diese räumte ihnen allerdings keinen Sonderstatus ein, so Shiveley, was die Arbeit des Teams oft behinderte. „Einmal drohten uns Polizisten Prügel an, wenn wir fotografieren würden“, erzählt der Koordinator. Aufgeteilt in zwei Gruppen verfolgte das Team die „heiße Phase“in den besetzten Turnhallen in Hitzacker, am Verladekran in Dannenberg, in Quickborn und an der Treckerblockade in Splietau.
Scott Shiveley ist zufrieden mit seinem Einsatz im Wendland: „Das war unheimlich viel Arbeit, aber auch sehr befriedigend.“Die größte Schwierigkeit sei gewesen, Aufgabe und Rolle des GIPT zu bestimmen. Zumal das Team neutral sein sollte, allerdings von der „Bildungsstätte für Gewaltfreie Aktion Kurve Wustrow e.V.“im Wendland initiiert und betreut wurde. Auch die BeobachterInnen selbst verpflichteten sich in einer Absichtserklärung der Gewaltfreiheit – ohne den Begriff genauer zu definieren. „Gewalt gegen Sachen ist für mich die Grauzone“, ergänzt Shiveley.
Gleichzeitig gab es unter den DemonstrantInnen vor und während des Transports kontroverse, zum Teil harte Diskussionen über die Berechtigung militanten Widerstands, in die auch die „Kurve“involviert war. Die InternationalistInnen wollten nicht Teil dieses Konflikts sein, sondern ausdrücklich „alle DemonstrantInnen gleich behandeln“, betont der Amerikaner.
Dennoch überwiegt in dem Bericht deutlich die Sichtweise der sogenannten „Gewaltfreien“. PolizistInnen und vor allem die „müde aussehenden“BeamtInnen des Bundesgrenzschutzes, die eigentlich „unter Einsatz ihres Lebens die Bevölkerung verteidigen“wollen, kommen ausführlich zu Wort, militante DemonstrantInnen nur selten. „Wir konnten uns nur zu Fuß bewegen“, meint Shiveley, „die Sitzblockade von X-Tausendmal-Quer war am besten zu erreichen“– und wurde unter anderem von MitarbeiterInnen der „Kurve“organisiert.
Andere Aktionen entlang der Transportstrecke werden oft kritisch bewertet: „Hysterische“, „provokante“und „aggressive“DemonstrantInnen in Quickborn hätten mehrmals die Polizei „beleidigt“. Deren Schlagstockeinsatz gegen die friedliche Sitzblockade vor dem Verladekran am Bahnhof Dannenberg widmet das Team dann ganze sechs Zeilen. Auch enthält der Bericht ausschließlich eigene Beobachtungen; von den über 400 Verletzten, drei Schwerverletzten und den 400 Festnahmen und Ingewahrsamnahmen, die die BI Lüchow-Dannenberg gezählt hat, erfährt die LeserIn nichts.
Die Ereignisse um den dritten Castor-Transport erscheinen dadurch in dem Bericht recht gemäßigt. Dabei berichtet Scott Shiveley, daß er „noch Monate später“bei jedem Hubschraubergeräusch die Bilder des Transports vor Augen hatte. Ist der Bericht in seinem Bemühen um „Neutralität“vielleicht übers Ziel hinausgeschossen? „Sicher glauben im Wendland einige, daß wir zur gewaltfreien ,Seite' gehören“, bedauert Shiveley, „aber das war nicht unser Ziel.“
Der Bericht ist für 8 Mark plus Porto erhältlich bei: Kurve, Kirchstr. 14, 29462 Wustrow.
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