Aus der hohen Welt der Naturgewalten

Die Kunsthalle Wien versucht mit „Alpenblick“ die Berge als kulturelle Problemzone abzubilden. Doch die Verbindung vom Aktionismus der Sixties und den kühlen Analytikern der 90er Jahre scheitert an der allzu erlebnisparkartigen Ausstellungsarchitektur  ■ Von Anja Helmbrecht

Die Wiener Secession mit ihrer Kuppel aus golden glänzendem Blattwerk und dem Beethoven- Fries im Inneren beging letzten Herbst ihr erstes Jahrhundert mit Fotografien des japanischen Fesselungsfetischisten Araki. Ihr neuzeitliches Pendant, die Kunsthalle Wien, befindet sich dagegen noch in den Kinderschuhen: Passend zum fünften Geburtstag gab es „Alpenblick“. Die anthologisch konzipierte Ausstellung findet in Kooperation mit der Kunsthalle Krems und dem Kunsthaus Aarau statt. Sie zeigt siebzig international renommierte Künstler und mehr als dreimal so viele Objekte. Die Präsentation ist schrill, bunt, bisweilen laut, hektisch und übervoll. Die Finanzierung sicherte größtenteils die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.

Dabei kann sich „Alpenblick“ zumindest auf das Thema verlassen: Die Darstellung von (Berg-) Landschaften funktioniert heute noch als Abbild gesellschaftlicher Zusammenhänge. Das Alpine kann als eine Art kulturelles Archiv gelten, als Spiegel soziokultureller Haltungen, die sich verborgen im Wechselspiel von Natur und Künstlichkeit abspielen. Ob sich die alpinen Images nun im Dokumentarismus, in sentimentalen Klischees oder reproduzierten Massengütern für den Tourismus niederschlagen, entscheidend ist ihre Wirkung.

In Wien sind es vor allem Arbeiten, die Ende der sechziger Jahre entstanden sind, an denen man den dokumentarischen Wert solcher Alpenkunst ablesen kann. Ein Werkkomplex wie Hermann J. Painitz' enthusiastischer „Entwurf für die Planierung der Alpen“ von 1969 beispielsweise, der sich für eine ebene Fläche zwischen Glockner und Venediger Plateauhöhe stark macht, vermittelt einen Einblick in die soziokulturelle Haltung der Entstehungszeit. In der Kunsthalle läßt sich das Projekt mit Hilfe von Konstruktionszeichnungen und Zeitungsartikeln, die im Anschluß an öffentliche Plädoyers von Painitz erschienen, nachvollziehen. Daraus ergibt sich eine wohltuende Distanz zum Präsentierten, die den Betrachter nicht nur über die utopische Vorstellungswelt hinter dem Vorhaben schmunzeln läßt.

Die 200jährige Alpengeschichte, ihr ewiges Bündnis aus kanonisierter Schönheit und reaktionärer Ideologie, löste in den späten sechziger Jahren ein Bedürfnis nach grundlegender Überprüfung aus. Arbeiten aus der unmittelbaren Gegenwart fehlt bisweilen diese Dimension. Besonders in der Malerei macht sich dieses Manko bemerkbar: Die Tableaus von Peter Doig, Jean-Frédéric Schnyder oder Alois Mosbacher zum Beispiel zeigen Figuratives, daß das Feld des bunten Dekorums kaum überwinden kann.

Anders in der Fotografie: Walter Niedermayrs kühler Blick auf seine Landsleute im Zyklus „Franz Josephshöhe“ steht in seiner Aussage dem kritischen Potential der älteren Generation in nichts nach. Und auch Hannes Franz gelingt mit seiner minimalistischen Arbeit „...an schönen Tagen sieht man bis ans Meer“, eine Schottersilhouette auf einem Holzbrett, die den Anarcho-Toilettenspruch „Weg mit den Alpen – freie Sicht zum Mittelmeer“ aufgreift, mühelos der Brückenschlag zwischen 68er und 89er Studenten. Ansonsten erschließen sich die Verbindungslinien nur selten, weil die Ausstellungsarchitektur zu sehr auf Erlebnispark setzt: Die Rieseninstallation „Heidi“ von Mike Kelley und Paul McCarthy dominiert alles.

Da wird James Lee Byars Inszenierung von „A drop of black Perfume“ zum Rettungsanker. Die im Rahmen der „Furkart“ 1983 entstandenen Fotos zeigen Byars, im goldenen Gewand unter einem Felsen stehend, mit einem schwarzen Fläschen in der Hand. Diese Aufnahmen brechen augenzwinkernd die Welt der Naturgewalten und ihre unergründlichen Mystizismen auf, ebenso wie eine Fotografie von Fischli/Weiß mit dem Titel „In den Bergen“ aus der Zeit ihrer filmartig inszenierten „Wurst“-Serie. Unter dem Aspekt „Spurensuche“ hat Lois Weinberger sein „Ruderal Elternhaus“ zusammengestellt. Die Arbeit besteht aus einem Patchwork mit sechzig Detailaufnahmen, die bunte Alltagsansichten rund um seinen Tiroler Hof zeigen. Das ist alles ganz hübsch anzuschauen, besonders wenn man sich an sein liebevoll zwischen den Eisenbahnschienen gepflanztes Unkraut auf der documenta X in Kassel erinnert.

Andererseits bleibt es ziemlich rätselhaft, warum diese Art der Bestandsaufnahme, die man als Archäologie der Gegenwart bezeichnen könnte, in dieser Weise Konjunktur hat. Steckt da wirklich nur die Sehnsucht nach penibler, alles erklärender Analyse dahinter? Oder spiegelt sich im Rückzug auf die Natur eine Verklärung am Ende des 20. Jahrhunderts wider? Vor den Alpen ist auch hinter den Alpen.

„Alpenblick“, bis 1. 2., Kunsthalle Wien. Der Katalog zur Ausstellung mit Essays zu Kunst, Politik und Kulturgeschichte sowie zahlreichen Künstlergesprächen ist im Verlag Stroemfeld/Roter Stern erschienen