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Andy Warhol für fünfzig Pfennig

Die Artothek verleiht rund 1.000 Ölbilder, Plastiken und Grafiken für maximal sechs Monate. Dem Verein stehen 80.000 Mark Ankaufsetat jährlich zur Verfügung  ■ Von Katharina Schenk

Der Stierkampf von Picasso ist schon etwas vergilbt, sein weißer Rahmen aus schlichtem, angemaltem Holz hat Macken und Schrammen, das schützende Glas ist zerkratzt – kein Wunder, hat dieses Bild doch eine lange Geschichte zu erzählen: Picassos Stierkampf- Grafik wandert seit 1972 von Charlottenburg nach Neukölln, von Reinickendorf zum Kreuzberg und schmückt dort Treppenhäuser, Wohnzimmer, Büros oder Flure – je nach Belieben des aktuellen Besitzers.

Mehr als 3.000 weiteren Kunstwerken ergeht es wie Picassos Stieren: Sie alle sind im Besitz der Artothek, die als Kunstverleih den BürgerInnen „Kunst auf Probe“ zur Verfügung stellt. Für die Dauer von drei Monaten darf ein Ausleiher – gegen Vorlage des Personalausweises – ein Kunstwerk sein Eigen nennen – für 0,50 Mark im Monat. Eine Verlägerung auf sechs Monate ist möglich. Die vielen Besitzer lassen Spuren zurück: „Die kleinen Schrammen nehmen wir in Kauf“, so Rita Uhrlau, Mitarbeiterin der Artothek, „schließlich handelt es sich bei unserer Kunst um Gebrauchskunst.“

1970 wurde die Artothek unter dem Dach des Neuen Berliner Kunstvereins, (NBK) gegründet. Ziel war es, BerlinerInnen jeder Alters- und Berufsschicht den Zugang zur Gegenwartskunst zu ermöglichen. Da dies in ungezwungener Umgebung in den eigenen vier Wänden der Wohnung geschehen kann und ohne ständige Sorge um den Wert des Kunstwerkes, dürfte zu dem anhaltenden Erfolg der Artothek entscheidend beigetragen haben.

Eine Ankaufskommission aus VertreterInnen von Kunstschaffenden und Kunstexperten trifft vierteljährlich zusammen, um nach Qualitätsmaßstäben über neue Ankäufe zu entscheiden. Den ExpertInnen steht ein jährlicher Ankaufsetat von 80.000 Mark zur Verfügung, der in Ölbilder, Plastiken und Grafiken investiert wird.

Das Künstlerverzeichnis liest sich wie ein „Who's who“ der modernen Klassiker: Joan Miró, Le Corbusier, Käthe Kollwitz, Man Ray, George Grosz oder David Hockney stellen nur einen Ausschnitt klassischer Moderne aus den Beständen der Artothek dar. Dennoch dominiert das lokale Kolorit. Das ist auch beabsichtigt, beinhaltet die Kunstvermittlung doch durch regelmäßige Ankäufe auch eine Förderung der Künstler.

So wurden von der Mitte November zusammentreffenden Ankaufskommission unter anderem zwei kleinformatige Ölbilder von der Künstlerin Antje Dorn gekauft. „Ich freue mich über den Ankauf durch die Artothek“, so die Künstlerin, „denn damit kann ich mir neben Ausstellungen und Publikationen einen weiteren Kanal zur Öffentlichkeit erschließen.“ Ihre Bilder wurden von einer Galerie vorgeschlagen und eingereicht. Immer mehr Künstler kommen aber auch selbst vor der nächsten Ankaufssitzung vorbei, um ihre Werke einzureichen.

Der Weg in den ersten Stock der Chausseestraße Nr.128/29 wird für den Besucher immer wieder zum abenteuerlichen Rundgang, denn man weiß schließlich nie, was einen gerade erwartet: Rund 1.000 Kunstwerke stehen ständig zur Ausleihe bereit. Doch durch die tägliche Rückgabe und Ausleihe von Werken wechselt der aktuelle Bestand ständig seine Farbe.

Wo die Wand in den Artothekräumen keinen Platz zum Hängen der Bilder mehr hergibt, stehen die gerahmten Lithographien aufrecht an die Wand gelehnt, eins hinter dem anderen. Plastiken sind in Vitrinen oder auf einem Bücherbord aufgereiht, und wirken damit alles andere als inszeniert. Der Umgang mit Kunst geschieht hier selbstverständlich und gleichzeitig behutsam: Mit Schutzfolien, Pappkartons und Gurten werden die Kunstwerke für die nächste Ausleihe wieder sorgsam verschnürt, Rückgaben werden vorsichtig enthüllt und zurückgestellt.

Der eine Besucher mag sich darüber freuen, daß gerade Andy Warhols Lenin zurückgegeben worden ist, der andere sieht sich durch die unergründlichen Bestände durch, auf der Suche nach einem Ölbild passend zur Wohnzimmergarnitur.

Allen individuellen Vorlieben zum Trotz gibt es eine Hitliste unter den Kunstwerken, und es zeichnen sich immer wieder Trends ab: „Zur Zeit sind gerade großformatige Ölbilder sehr gefragt, am besten mit klaren, dekorativen Formen oder abstrakten Kompositionen“, beschreibt Heide Bayat, Leiterin der Artothek, die aktuellen Vorlieben. Werke aus den siebziger Jahren, wie der sogenannte kritische Realismus mit allzu deutlicher Stellungnahme, bleiben dafür gern mal länger stehen. Die Kunstausleihe ist somit auch ein Spiegel des Kunstgeschmacks der BerlinerInnen.

2.000 Kunstwerke sind stets verliehen und dürften den Berlinerlnnen unterschiedlichste Emotionen und Erfahrungen bereiten – auf jeden Fall aber einen Tapetenwechsel im Dreimonatstakt. „Es ist wie ein Spiel“, sagt eine Ausleiherin, die bereits seit sieben Jahren die Artothek besucht: „Zuerst die tagtägliche Auseinandersetzung mit dem Bild, dann die Gewöhnung, bis ich es schließlich liebgewinne. Und schließlich graut mir vor der Zeit, wo ich es wieder abgeben muß.“

Von vergleichbaren schwermütigen Trennungen zwischen Ausleihern und ihren Leihgaben wüßte Heide Bayat viele aufzuzählen: „Viele Ausleiher kommen auf uns zu und möchten das Bild oder die Plastik kaufen. Das geht natürlich nicht, da wir ein Kunstverleih sind“, betont sie. „Wir freuen uns über das Interesse und vermitteln dann gerne die Adresse der Galerie oder des Künstlers.“

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