Das Ich ist eine Baustelle

Was ist Verrücktheit? In seinem Seminar „Die Psychosen“ erklärt der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, wie Bild und Sprache zusammenhängen. Das als gesprochener Kommentar gehaltene Seminar ist nicht zuletzt anekdotenreich und humorvoll  ■ Von Manfred Riepe

Wird das Projekt der Aufklärung klassischerweise als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definiert, so demonstrierte der durch seine schriftlichen Aufzeichnungen berühmt gewordene Paranoiker Daniel Paul Schreber, daß dieser „Ausgang“ auch Verrückten offensteht. Am 14. Juli 1902 verkündete das Oberlandesgericht Dresden: „Die Feststellung, daß sich der Kläger in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, reicht zur Entmündigung nicht aus.“ Der Psychotiker Daniel Paul Schreber rehabilitiert sich als mündiger Bürger und verweist damit seine der rationalen Vernunft verpflichteten Psychiater, die den Kranken lieber hinter Anstaltsmauern gesehen hätten, auf die Plätze.

Die theoretische Herausforderung der paranoischen Psychose, die sich in Schrebers 1903 erschienenen „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ zu einem auch heute noch faszinierenden Dokument verdichtete, wurde von Sigmund Freud erst mit über siebenjährigem Zögern angenommen. Der von Schrebers „Denkwürdigkeiten“ ausgehende Erklärungsdruck führte zum ersten größeren Umbau der psychoanalytischen Theorie.

In den Augen des französischen Analytikers Jacques Lacan, der in seinem nun auf deutsch vorliegenden Seminar III: „Die Psychosen“ aus dem Jahr 1955/56 Freuds „Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“ ebenso wie Schrebers „Denkwürdigkeiten“ einer Relektüre unterzieht, lieferte Sigmund Freud zwar einen brauchbaren Einstieg in die Thematik. Allein, den Unterschied zwischen Neurose und Psychose habe der Erfinder der Psychoanalyse nicht vollends erfaßt.

Diese Schwierigkeit liegt nach Lacan in der Natur der Sache und zeigt sich bereits in einigen programmatischen Bemerkungen am Ende des Aufsatzes von Freud, der in Schrebers „Wahn eine auffällige Übereinstimmung mit unserer Theorie“ erblickt, und nur „das Zeugnis eines Freundes und Fachmannes“ bewahrt den Wiener Nervenarzt vor dem Vorwurf, die Psychoanalyse sei ein Plagiat des Wahnsinns. Vor dem Hintergrund dieser nicht zufälligen Ähnlichkeit zwischen dem Wahn und seiner Konzeptualisierung gestaltet Lacan sein Psychosenseminar als Rekonstruktion der psychoanalytischen Theorie, wie Freud sie im Hinblick auf das Psychosenproblem umstrukturierte.

Der Pariser Analytiker zieht daher Freuds drei Jahre nach der Schreber-Studie verfaßten Aufsatz „Zur Einführung des Narzißmus“ heran, um das Narzißmuskonzept einzubinden in das „Spiegelstadium“: dem hierzulande am meisten rezipierten und zugleich am gnadenlosesten mißverstandenen Aspekt der Lacanschen Theorie. So erfolgt die Bildung des Ich zwar im „Spiegel“ eines gestaltgebenden mütterlichen Anderen. Doch diese Genese des Ich aus einem Spiegelbild entspricht keiner Abgeschlossenheit, das Ich ist und bleibt eine Baustelle.

Die Verschränkung libidinöser und aggressiver Momente im Spiegelstadium, die Lacan anhand der ausweglosen Dialektik von Herr und Knecht verdeutlicht, öffnet sich zu einem Status quo erst durch den Bezug auf ein drittes Moment im Sinne des ödipalen Dreiecks. Spannend am Psychosenseminar ist, wie Lacan hier den berüchtigten „Ödipuskomplex“ nicht – wie bereits die erste Generation nach Freud – als stereotypen Mechanismus interpretiert, sondern als die Drehscheibe, auf der die diachrone Sprachstruktur den bildhaft organisierten Mutter-Kind-Kosmos aufsprengt. Die methodische Frage „Was ist ein (narzißtisches) Bild?“ beantwortet sich so erst vor dem Hintergrund des Problems „Wie funktioniert Sprache?“.

In seinem Psychosenseminar vollzieht Lacan so (im Rückgriff auf die Sprachwissenschaftler de Saussure und Jakobson) den berühmten „linguistic turn“, demzufolge zusammenwächst, was seit Freud zusammengehört: der visuelle Bezug des Subjekts zu seinem Spiegelbild und die seit der „Traumdeutung“ offensichtliche sprachliche Verfaßtheit unbewußter Seelenzustände. Die in der Frühphase der Ichbildung wurzelnde psychotische Störung erfolgt nach Lacan daher aufgrund einer fehlerhaften Verknüpfung der Register Bild und Sprache.

Die Störung manipuliert den Bezug zur Gesamtheit des Sprechens, wie Daniel Paul Schreber in seiner – mit „potemkinscher“ Hermetik konstruierten – Wahnwelt detailreich dokumentiert. Der wissenschaftlich gebildete Schreber ist ein virtueller mad scientist, der ein astronomisch-psychologisches Modell geschlechtsneutraler „Seelenwollust“ entwirft, die er am eigenen Leibe unmittelbar erlebt. Schreber wähnt sich dabei als schwarzes Loch im Zentrum des Universums, das die Seligkeit Gottes in einem über Jahre pausenlos erfolgenden „Strahlenverkehr“ absorbiert. Den Schlüssel zur hermetischen Struktur dieses Wahns, in dem der Senatspräsident a. D. nichts anderes tut, als permanent Wollust zu produzieren, findet Lacan in Schrebers naturwissenschaftlicher Stringenz. Mit seinem Energieverteilungsmodell der Wollust unternimmt Schreber den tragischen Versuch, die ödipale Dreierstruktur der Geschlechtlichkeit in einer „Weltordnung“ zu rekonstruieren, die wie das „Spiegelstadium“ nur zweiwertig ist und in der die linke Seite der Wollust- Gleichung mit der rechten Seite zur Deckung gebracht werden muß.

Lacans genialer Schachzug im Psychosenseminar besteht nun darin, Triebstruktur und Sprachlichkeit als zwei Seiten einer Medaille aufzufassen. Die unmögliche Ökonomie der permanenten Wollustproduktion des Psychotikers Schreber karikiert die mögliche Ökonomie genital lokalisierter Sexualität im ödipalen Dreieck. In diesem Sinn ist die (nichtpathologische) Funktion des Sprechens so aufzufassen, daß der spiegelhaft-dualen Ordnung der Wissenschaft ein regelwidriges Element eingeschrieben ist. Dieses dezentrierende Element entleiht Lacan der Linguistik Roman Jakobsons, es ist die „Metapher“, die die symbolische Ordnung auf Ironie, Witz, Versprecher und Sprachspiele hin öffnet, die dem für Psychotiker charakteristischen Konkretismus absolut fremd ist. Da diese metaphorische Funktion im ödipalen Dreieck durch den Vater vermittelt wird, ist das Psychosenseminar um die Frage zentriert: Was ist ein (symbolischer) Vater?

Der rote Faden dieses als gespochener Kommentar gehaltenen Seminars ist nicht mit akademischer Betulichkeit gewoben. Der lebendige und humorvolle Text ist voller Anspielungen, Anekdoten und giftigen Anmerkungen an die Adresse der orthodox verflachten Psychoanalyse der internationalen Vereinigung (IPA). Man bekommt Lust auf das Nachfolgeseminar „Die Objektbeziehung“, das bereits in einer inoffiziellen deutschen Arbeitsübersetzung kursiert.

Jacques Lacan: „Das Seminar Buch III (1955 bis 1956): Die Psychosen“!. Aus dem Französischen von Michael Turnheim. Quadriga Verlag, Weinheim Berlin 1997. 385 Seiten, 78 Mark