■ Mögliche Orte
: Der winterliche Fahrradweg

Fahrradwege sind eine nützliche Erfindung. Weniger zum Radfahren – dazu sind sie häufig zu schmal und zu holperig –, als um Sachen darauf abzustellen. Autos lassen sich hier leicht und gern parken, Fußgänger gehen nirgendwo nachdrücklicher spazieren als auf den in einladend warmen Rottönen gehaltenen Markierungen, türkische Männergrüppchen treffen sich zum raumgreifenden Gespräch – und wo sonst ließen sich Bierflaschen so schön und so wirkungsmächtig zerdeppern?

Jetzt, in den ersten Januartagen, demonstrieren sie einen weiteren Vorzug: Radwege sind ein optimaler Weihnachtsbaumablageplatz. Die in Berlin gebräuchliche schulterhohe Normfichte paßt sowohl farblich als auch in ihren Ausmaßen exakt auf einen Radweg, wenn man sie in Längsrichtung dort ablegt und den Stammstummel präzis in der Mitte ausrichtet. Quer über den Weg plaziert bildet sie dagegen eine natürliche, zum Hüpfen oder großzügigem Umfahren auffordernde Barriere, die zu verstehen gibt, daß auch 1998 weder langweilig noch allzu gradlinig verlaufen wird. Und so verenden sie nun klaglos, kreuz oder quer auf Berlins Radwegen, ein trauriger Anblick, ein stummes Massensterben, schüttere Gerippe mit Lamettaresten wie getrocknete Tränen. Letzten Satz bitte gleich wieder streichen, zu kitschig.

Grundsätzlich ließe sich gegen diese Praxis zwar einwenden, daß man bei Weihnachtsbäumen nicht knickerig sein und statt einer ärmlichen Fichte ordnungsgemäß eine richtige Tanne zum Fest verpflichten sollte. Schließlich ist im dazugehörigen Song ja von einem Tannenbaum die Rede. Doch eine Tanne mit ihrem majestätischen Wuchs und ihrer dichten Benadelung wäre zu stolz, zu saftig und zu aufrecht, um sie am Ende rüde auf einem Radweg auszusetzen. Und dieser Brauch ist es doch, der das Weihnachtsfest erst zu einer rundum gelungenen Veranstaltung macht. Das Praktische daran ist, daß man mit der dürren Fichte auch gleich die anderen überlebten Gegenstände des Wohnzimmers ausräumen kann. Das Hinaustragen des Baumes wächst sich rasch zum Großreinemachen aus, wenn man erst damit begonnen hat, die abgefallenen Nadeln zusammenzukehren.

Deshalb finden sich in den ersten Januartagen auf Berliner Radwegen neben sterbenden Fichten ausgebrannte Fernseher, zertrümmerte Schränkchen, tote Tiere, angekokelte Matratzen, versiffte Sessel und ähnliche Rückstände des Festes der Liebe. So ist das in der Konsumgesellschaft: Auch Besinnlichkeit produziert Müll. Und wenn es keine Radwege gäbe, verstopfte der ganze Krempel auch 1998 die ungezählten Wohnzimmer und mißmutigen Seelen, und Aggression und Gewaltpotential nähmen weiter zu. So aber sind es nur die strauchelnden Radfahrer, vor denen man sich in diesen Wochen hüten sollte. Die durchschnittlichen Weihnachtsfesttagsabsolventen dagegen atmen in ihren gelichteten Wohnzimmern erleichtert auf. Jörg Magenau