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Träume in Spurweite H0

■ Zusammen mit seinen FreundInnen herrscht Gerald K. über Europas größte mobile Modelleisenbahnanlagen

Manchmal wacht Gerald Kinastowski nachts aus einem Traum auf. Er träumt gern – von Unfällen. Ein Sattelschlepper kommt auf einer kurvigen Hochstraße von der Fahrbahn ab, durchbricht Leitplanke und Geländer. Das Führerhaus ragt über den Brückenrand. Der Fahrer ist nicht zu beneiden. Gerald Kinastowski schon. Denn er läßt seine Träume wahr werden. Er ist Modelleisenbahner.

„Wir sind ja nur ein kleiner Club, da kann man seine Ideen auch umsetzen“, sagt Gerald Kinastowski. Eigentlich sagt er: „Wir sind joa nür ein gloiner Glub“, denn er kommt ohrenscheinlich aus dem Sächsischen. „Bin aber schon vor der Wende rüber!“Ein schlechtes Tattoo auf seiner rechten Hand und sekundenlanger dunkler Trotz in seinem Gesicht bezeugen, daß er nicht nur von Unfällen träumt. Doch das soll sein Geheimnis bleiben. Im Gegensatz zum Schicksal des Lkw-Fahrers. Denn dessen Unfall ist eines der spektakulärsten Ereignisse auf einer fast wohnzimmergroßen Modelleisenbahn. Diese und fünf weitere fast wohnzimmergroße Modelleisenbahnen stehen nach der Station Winsen und vor den Stationen Bienenbüttel bei Lüneburg, Peine und York an diesem Wochenende im World Trade Center in Bremen. Denn Gerald Kinastowski und sein Club mit Sitz im ländlichen Bötersen präsentieren die nach nach eigenen Angaben größte mobile Modelleisenbahnanlagen-Ausstellung Europas.

Die 16 Mitglieder des Clubs „Modelleisenbahnfreunde Bötersen“scheinen eine Vorliebe für Unfälle zu haben. Auf einer Anlage muß die Polizei sogar zweimal eingreifen. Ansonsten dominieren aber Bahnszenen in den gebirgigen Landschaften. Kaum ein Fußballplatz, der nicht von einem Gleis umrundet wird. Kaum ein Haus, dessen BewohnerInnen nicht über Bahnlärm klagen müssen. Schließlich sind auf den sechs Anlagen mit allen in Europa, nein, in der ganzen Welt erhältlichen Spurweiten – einschließlich der DDR-Spur „TT“– 130 Züge permanent unterwegs.

Die „Modelleisenbahnfreunde Bötersen“– neun Männer und immerhin sieben Frauen –, also die ModelleisenbahnfreundInnen arbeiten im Schnitt zweieinhalb bis drei Jahre an einer fast wohnzimmergroßen Anlage. Jedes Haus wird wie vom Modelleisenbahnlaien aus dem Faller-Programm ausgesucht, montiert und dann auf die in Segmente geteilte Platte aufgeklebt. Aufgeklebt werden auch Autos, Bäume, Sträucher, Fußgänger, Tiere, Jäger, Gleise, Hochspannungsmasten, Oberleitungshalter, Brückenpfeiler und – Unfallfahrer. Sowas dauert, spart aber letztlich Zeit. Nur einen langen Arbeitstag brauchen Kinastowski und Co zum Aufbau ihrer Ausstellung, die die Welt beinahe so widerspiegelt wie sie ist. Wenn sie sich ändert, ändern die FreundInnen mit geringer Verzögerung auch die Anlagen.

„Einige sind schon die zweite oder dritte Generation“, sagt Gerald Kinastowski. Wenn die FreundInnen mit ihren Attraktionen (Versicherungswert: 1,1 Millionen Mark!) nicht gerade zwischen York und Chemnitz auf Ausstellungstournee sind, ersinnen sie fortwährend neuere, bessere, ausgefeiltere und mit mehr Tricks ausgestattete Weltbilder. Einen Rummelplatz mit beweglichen Karussells und Straßen mit fahrenden Autos wollen sie auf der nächsten Anlage mit Spurweite H0 (sagen Sie nie „HO“, sonst ernten Sie die vergrämte Antwort „Das heißt H null!“) installieren. Und: In eine Lokomotive, Spurweite 1, (Kosten: 4.500 Mark) werden sie eine Farbkamera einbauen. Schon jetzt gibt es eine Lok mit Schwarz-Weiß-Kamera, mit deren Hilfe man die Modellwelt aus Sicht der ModelleisenbahnfahrerIn begutachten kann. Ein imposantes Schauspiel!

Das Schicksal der Altanlagen ist weniger beeindruckend. Wenn genug Ideen da sind und die Zeit für eine Abwicklung gekommen ist, werden brauchbare Teile wieder aufbereitet. „Die Gleise gehören aber nicht dazu“, so Kinastowski. Die sind zwar von Märklin, aber nach den Jahren doch ziemlich verschlissen. Nach dem Recycling zersägen die FreundInnen Platten samt Gleiskörpern, „und dann ab ins Feuer damit“.

Ehen sind wegen des zeitraubenden Hobbys aber noch nicht in die Brüche gegangen. Zumindest bei den „Modelleisen-bahnfreunden Bötersen“.

Und wovon träumt Gerald Kinastowski noch? „Einmal mit der Ausstellung nach Amerika.“Die Amerikaner seien zwar modellbauverrückt. Aber: „Die bauen nicht solche Anlagen. Sie sind Pfuscher.“ Christoph Köster

Samstag und Sonntag von 10 bis 18 Uhr im World Trade Center, Birkenstraße, Eintritt zehn (ermäßigt sieben, Kinder fünf) Mark

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