■ Frankreichs energische Linksregierung wird in ihrer bemühten Reformpolitik vom Protest der sozial Ausgegrenzten überrascht
: Die Wirkung unbedachter Worte

Es hatte alles so gut angefangen, das Glück war ihr günstig, und sie konnte auf einen kräftigen Vertrauensvorschuß der Wähler bauen. Nun steht eine weitere Linksregierung vor dem Steilabhang der Vergeblichkeit, an den jedes sozialdemokratische Regieren gegen die Arbeitslosigkeit in diesem Jahrzehnt sehr bald gerät. Im Grunde waren es nur ein paar ungeschickte Gesten, ein paar unbedachte Worte aus der Mitte des fleißigen und auch mutigen Regierungsteams, die auf einmal Unsicherheit verbreiteten und unbarmherzig die Lage beleuchteten: Die Minderheit der dauerhaft Ausgeschlossenen vermehrt sich ständig. Und die fracture sociale, der Riß, der durch die französische Gesellschaft geht, läßt sich durch kein Regierungshandeln nach bisherigem Mustern heilen. Schließlich gibt es keine Linke, die aus den alten Mustern ausbrechen könnte – wenn sie es denn wollte.

Eine Einsicht, die den skeptischen und zumeist auch konservativen Franzosen nicht neu ist, aber auch von ihnen immer wieder verdrängt wird, wie von allen übrigen Europäern. Zum Verdrängen hatte man freilich im vergangenen Jahr guten Anlaß: Nachdem soeben Tony Blair sich strahlend ans Geschäft gemacht hatte, gelang es auch Lionel Jospin, aus der vielfarbigen Gauche plurielle ein vertrauenerweckendes und tatenlustiges Team zusammenzufügen. Das hatte niemand erwartet, denn die Linke war zu ihrem gewaltigen Wahlerfolg ja nur durch die Selbstmordaktion des Präsidenten Chirac gekommen, der sich durch schlechten demoskopischen Rat zur vorschnellen Auflösung des Parlaments hatte verführen lassen. Zur kräftigen Parlamentsmehrheit und zur symphatischen Kollegialregierung kam die günstige Wirtschaftskonjunktur, gestützt vor allem auf den Export.

Die Linke machte sich auch sogleich energisch ans Regieren, in der Rechtspolitik, in der Bildungs- und in der Umweltpolitik, schließlich in der Arbeitsmarktpolitik. Die Einrichtung von 350.000 Arbeitsplätzen für junge Leute, die im Wahlkampf versprochen worden war, wurde auch tatsächlich in Angriff genommen. Und Martine Aubry, die erfahrene Ministerin für Soziales und Arbeit, durfte das Hauptprojekt der Regierung zur Überwindung der Arbeitslosigkeit angehen: die gesetzlich verankerte 35-Stunden-Woche, die im Lauf der nächsten vier Jahre eingeführt werden soll. Die Widerstände dagegen sind groß; sie kommen nicht nur von den Arbeitgebern, sondern auch aus den eigenen Reihen. Mehrere Gewerkschaftsführer halten nichts davon; die Mehrzahl der Arbeitnehmer ist kaum dafür zu begeistern. Martine Aubry, die Unerschrockene, läßt sich's nicht anfechten.

Und nun, im Frühwinter, auf einmal dies: zuerst das Aufbrechen von Jugendgewalt, auf den Schulhöfen ebenso wie in den sozial toten Rand- und Schlafstädten rings um die urbanen Zentren. Wie immer sind vor allem die Kinder der Maghrebiner und Schwarzafrikaner im Medienvisier und willkommenes Futter für die Xenophobie der rechtsradikalen Front National. Davor hat noch jede Regierung, ob links oder rechts, mehr Angst als nötig. Und wie immer folgen dann die hilflosen Reaktionen, die sowohl die Parteien wie den Staat diskreditieren: Man werde die Sicherheit wieder mehr in den Mittelpunkt rücken, man werde die Polizei verstärken und besser ausbilden, man werde Trainings- und Hilfsprogramme für die Vorstadtjugend auflegen.

So auch die Regierung Jospin, die sowohl Muskeln wie Einfühlung vorwies, wo beides nicht hilft und überflüssig ist – und in acht Wochen auch vergessen sein wird. In Frankreich bekommen die kurzen Aufmerksamkeitswellen auf Jugendgewalt eine besonders lächerliche Note, da man jedesmal ganz schnell die Maxime befolgt: Junge Menschen ohne Aussicht auf Ausbildung und Job sollen sich wenigstens geordnet austoben. Also zeigt das Fernsehen hoffnungsfrohe Bilder von Sportplätzen und Hinterhöfen, wo zumeist farbige Jugendliche sich in heiteren Kampfspielen üben, unter Anleitung von ABM-Kräften, die nunmehr im Kontingent jener 350.000 eingestellt werden. Das Ritual ist jahrzehntealt, es stammt aus den dreißiger Jahren. Von den Studenten hat die Linksregierung so wenig zu befürchten wie ihre konservativen Vorgängerinnen. Sie sind im gelegentlichen Protest ziemlich apolitisch und harmlos, wie in Deutschland, und verfügen in der Regel auch über hinlängliche Einkommen.

Wirklich aus dem Konzept gebracht hat die Regierung in ihrem brav sozialdemokratischen Wirken aber die Protestbewegung, die durch die auf einmal organisationsfähigen Langzeitarbeitslosen angeführt wird. Plötzlich bemerkte die Presse, daß Jospin seit seinem Regierungsantritt das Wort von der fracture sociale, um das sich doch die Wahlkämpfe der letzten Jahre gedreht hatten, kaum mehr in den Mund genommen hat. Das gilt als ein Zeichen für sozialdemokratische Selbstberuhigung und für neuerwachtes Wachstumsvertrauen, das Umverteilungspolitik an späte Stelle rückt. Übelgenommen hat man aber vor allem die unwirschen Reaktionen von Aubry, die geradezu ridiküle Unterstützungsbeiträge für sehr alte Langzeitarbeitslose versprochen hatte und dann die Protestler beschied, sie möchten die besetzten Sozialämter räumen. Die Regierung hätte ihre Pflicht getan.

Ausgerechnet Martine, die wackere Martine, war auf einmal ganz Staat. Und dann auch noch Nicole Notat, die Vorsitzende der veranwortungsbewußten Reformgewerkschaft CFDT, die zur Zeit auch dem Sozialversicherungsamt Unedic präsidiert. Am letzten Sonntag sprach sie von einer Manipulation der Arbeitslosen, war plötzlich die Ordnungshüterin. Und so ist es denn auf einer Demonstration in dieser Woche zu dem für die Regierung tödlichen Slogan gekommen: Aubry, Notat – agents du patronat, zu deutsch: Aubry, Notat, Helfershelfer der Arbeitgeber.

Wenn die Wirklichkeit einer gespaltenen Gesellschaft aufbricht, so liegen, wie sich hier wieder einmal zeigt, gerade bei reformtüchtigen Sozialdemokraten ganz schnell die Nerven bloß. Wo immer auf sozialdemokratische Art das Ganze der Arbeitsgesellschaft gerettet werden soll, braucht man mehr Staat, als an Staat noch vorhanden ist. Deswegen legen die deutschen Sozialdemokraten ebenwo wie Blairs New Labour das Sozialdemokratische ab – und damit die Gesellschaft. Die französische Sozialisten meinen es mit ihrem Namen noch einmal ernst. Nun werden sie von den Ausgeschlossenen auch beim Namen genannt. Claus Koch