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Führende Ärztevertreter fordern eine Änderung des Abtreibungsparagraphen. Abbrüche nach der 20. Schwangerschaftswoche - in einem Stadium also, in dem ein Kind schon lebensfähig ist - sollen demnach generell verboten werden. Derzeit ist bei

Führende Ärztevertreter fordern eine Änderung des Abtreibungsparagraphen. Abbrüche nach der 20. Schwangerschaftswoche – in einem Stadium also, in dem ein Kind schon lebensfähig ist – sollen demnach generell verboten werden. Derzeit ist bei medizinischer Indikation – darunter fallen Behinderungen der Ungeborenen – die Abtreibung bis zum Tag vor der Geburt zulässig. Anlaß für den Vorstoß der Ärzte bildete die Abtreibung eines behinderten Kindes in der 25. Schwangerschaftswoche. Bei dem Eingriff in der Oldenburger Frauenklinik überlebte der Junge schwerstbehindert, die Eltern fordern jetzt Schadenersatz von den Ärzten. Der Fall offenbart eine „ethische Zerreißrobe“ – sowohl für die betroffene Frau als auch für die Mediziner.

Neue Diskussion um „Schallgrenze“

„Jede Entscheidung, die wir in diesen Fällen treffen, ist juristisch und ethisch anfechtbar und immer schlecht“, bekennt Matthias Albig, niedergelassener Frauenarzt in Berlin. „Wenn die schwangere Frau schwere Depressionen bekommt und aus dem Fenster springt, hafte ich. Aber wenn ich einen Schwangerschaftsabbruch durchführe und das Kind könnte leben, bin ich ein Mörder.“

Drastische Worte für einen tiefgreifenden Konflikt, den andere Ärzte „ethisches Chaos“ oder die „Grauzone“ nennen. Die „Grauzone“ – das sind Schwangerschaftsabbrüche, die bei einer gesundheitlichen Gefährdung der Frau auch noch nach der 22. Woche vorgenommen werden können – in einem Stadium also, in dem ein Kind schon lebensfähig ist. Ein Spannungsfeld, in das Eltern und Mediziner vor allem dann geraten, wenn die immer perfektere Kette der vorgeburtlichen Diagnostik eine Behinderung des Fötus anzeigt. Doch wann ist ein behindertes oder krankes Kind eine unzumutbare Belastung? Wann vielleicht nur nicht genehm? Wann bringt es die Mutter in dauerhafte gesundheitsgefährdende Bedrängnis? Und wie gehen MedizinerInnen mit einem lebensfähigen Kind um, das sie retten müßten, wenn es zu früh geboren würde, das sie nun aber am Leben hindern sollen?

In der Verbandszeitschrift von Pro Familia schildert Professor Peter Petersen von der Medizinischen Hochschule Hannover einen solchen Fall, der klinikintern zu intensiven Diskussionen führte. Bei einer Patientin wurde erst in der 28. Schwangerschaftswoche die schwere Mißbildung des Fötus diagnostiziert. Die Schwangere wehrte sich depressiv-verzweifelt, das Kind auszutragen. Nach der Abtreibung kam das Kind lebend zur Welt, der diensthabende Kinderarzt ließ es in seinen Armen sterben. Für die Frau und die Mediziner „eine ethische Zerreißprobe“, wie Petersen es nennt. Eine Zerreißprobe und ein Ausnahmefall. 130.000 Schwangerschaftsabbrüche registrierte die amtliche Statistik 1996, nur 159 wurden nach der 23. Woche durchgeführt. Im ersten Halbjahr 1997 waren es 118. Doch die geringe Zahl hilft nicht über den Konflikt eines jeden Einzelfalls hinweg.

Der Konflikt wird in der Medizinerschaft bereits seit langem differenziert diskutiert. Im vergangenen Oktober lud die „Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe“ Humangenetiker, Frauenärzte, Juristen und Theologen zu einer mehrtägigen Anhörung ein. Bis Februar will man aus den Ergebnissen eine gemeinsame Empfehlung an Politik und Ärzteschaft formuliert haben. Bewußt wird darin auf eine erneute Änderung des § 218 verzichtet werden. „Unser Ziel muß sein, daß die Fehlbildungsdiagnostik um die 20. Woche abgeschlossen ist und wir gar nicht erst in den Konflikt kommen, in die Nähe einer frühen Euthanasie zu geraten“, sagt Professor Dietrich Berg, Präsident der Gesellschaft. Berg plädiert für eine breite Diskussion und für ein ethisches Regelwerk, mit dem die Ärzteschaft sich selbst bindet.

Daß führende Ärztefunktionäre die sensible Problematik jetzt ausgerechnet im Zusammenhang mit Ministerin Noltes Forderung nach einer Korrektur des § 218 skandalisiert haben, sehen viele MedizinerInnen mit Verärgerung und Unbehagen. „Man kann das Thema nicht einfach zackig in den Wahlkampf werfen“, kritisiert Gisela Schnäbele, ärztliche Leiterin bei Pro Familia. Ein „emotional aufgeladener Nebenkriegsschauplatz“, urteilt auch Professor Heribert Kentenich, Chef der Berliner Frauenklinik Pulsstraße. „Der Interessenkonflikt zwischen Mutter und Kind ist nicht administrativ zu regeln. Wir müssen die Frauen psychisch begleiten, damit sie sich der Situation mit einem behinderten Kind gewachsen fühlen. Dabei müssen wir auch die Männer einbeziehen. Das ist Knochenarbeit.“

Doch nicht immer läßt sich die Zwangslage letztlich so umfahren, wie bei der Patientin aus Baden- Württemberg, die in der 27. Schwangerschaftswoche verzweifelt in die Berliner Klinik kam. In der 24. Woche war bei dem Fötus das Down-Syndrom (früher Mongoloismus) diagnostiert worden. Mit dem Wohnmobil waren die zukünftigen Eltern daraufhin quer durch die Republik gereist. Die Ärzte wehrten – aus gutem Grund – ihr Drängen nach einer Abtreibung ab, die eine aktive Tötung des Fötus im Mutterleib bedeutet hätte. Nach psychologischer Betreuung entschied sich die Frau, ihr behindertes Kind auszutragen, das dann nach der Geburt von einer Kinderkrankenschwester adoptiert wurde.

In der Berliner Pulsklinik zumindest ist kein Fall bekannt, wo es nach intensiver Betreuung doch zu einem Schwangerschaftsabbruch jenseits der „Schallgrenze“ kam. Die ungeschriebene Schallgrenze, das ist für Kentenich und für die meisten seiner KollegInnen in deutschen Kliniken die 22. Woche: „Danach mache ich es nicht.“

Andere machen es doch – sonst gäbe es die Diskussion nicht – nach Einzelfallprüfung und mit ungutem Gefühl und geraten damit auch in eine juristische Zwickmühle, wie der aktuelle Rechtsstreit um ein behindertes Kind in Oldenburg zeigt (s. unten). Weil sie sich mit der Verantwortung alleingelassen fühlen, weisen MedizinerInnen verzweifelten Eltern eher den Weg Richtung Holland. Dort gibt es – wie in den USA und in Frankreich – Kliniken, die offen und für viel Geld auch im Spätstadium Schwangerschaften abbrechen – durch den medikamentös im Mutterleib eingeleiteten Kindstod. Das Problem ist damit nur ein paar Kilometer aus dem Blickfeld geschoben. Vera Gaserow

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