■ Mit Emile Zolas „J'accuse“ betrat vor 100 Jahren der Intellektuelle die Bühne. Heute säße Zola neben Dolly Buster in einer Talkshow
: Die hilflosen Aufklärer

Vor 100 Jahren griff Emile Zola in den Fall des jüdischen Hauptmanns und vermeintlichen Staatsverräters Alfred Dreyfus ein. Sein „J'accuse“ ließ die wahren Verschwörer erzittern und wurde zum Fanal einer gegen sie gerichteten Sammlungsbewegung. Berühmter noch als der Schlachtruf selbst wurde das Schimpfwort, das die derart Aufgeschreckten gegen Zola und seine Anhänger in Umlauf setzten – „Intellektuelle“.

Wie man weiß, durchlief das Verdikt alsbald einen fundamentalen Funktions- und Bedeutungswandel, der es zum Kenn- -und Fahnenwort öffentlich engagierter Geistarbeiter stempelte. Über die Natur dieses Engagements herrscht bis heute Streit. Agiert der wahre Intellektuelle stets Schulter an Schulter mit den Benachteiligten, Entrechteten und Gedemütigten, oder darf er seinen öffentlichen Feldzug auch auf der Seite der Macht führen? Ist ein Intellektueller automatisch links und fortschrittlich, wenn nicht gar dezidiert sozialistisch, oder lebt er nicht vielmehr von der Distanz gegenüber jeglichen politischen und sozialen Strömungen?

Fest steht nur soviel: Intellektuelle bauen auf einen Mitnahmeeffekt. Sie legitimieren ihren öffentlichen Wortgebrauch mit dem geistigen Kapital, das sie zuvor auf einem kulturellen Feld erworben haben. Sie beanspruchen Gehör, weil sie etwas zu sagen haben, und sie finden Gehör, weil man ihrer Stimme traut. Der intellektuelle Effekt setzt zweierlei voraus: Menschen, die sich in besonderer Weise auf die Sprache verstehen, vorzüglich auf das geschriebene Wort, sowie ein Publikum, das genau dieses Vermögen honoriert. Die erste Voraussetzung erfüllt niemand besser als Schriftsteller und Philosophen. Jene, weil nur sie die ganze bildnerische, mimetische Kraft der Sprache freizusetzen verstehen, diese, weil sie deren kognitive, reflexive Potenzen aufs äußerste steigern. Daher denn der Dichterphilosoph, der beides kombiniert, den intellektuellen Gipfelpunkt erklimmt: Sänger der Ewigkeit und Künder der Bedeutung – Dostojeweski, Camus, Sartre...

Die zweite Voraussetzung erfüllt vollgültig allein die bürgerliche Hochkultur mit ihrer exklusiven Wertschätzung von Schrift- sowie ausdifferenzierten Textsprachen. Solange deren Hegenomie über die anderen Kulturen, über „lebendige“ Sprachen und Dialekte währt, solange bewegen sich Intellektuelle in der ihnen gemäßen Umgebung. Noch die harscheste, unversöhnlichste Kritik an diesem bürgerlichen Maß setzt voraus, wogegen sie sich wendet. Der geistige Ausbruch, der ästhetische Schock, das Zurschaustellen un- beziehungsweise antibürgerlicher Haltungen macht nur angesichts eines Publikums Sinn, das sich noch schockieren läßt und den „Geist“ verteidigt. Der Abstieg der bürgerlichen Hochkultur, ihr Hegemonieverlust, stürzt früher oder später auch die Intellektuellen vom öffentlichen Podest.

Mit dieser gemeinsamen Talfahrt sind wir seit geraumer Zeit konfrontiert. Nicht, daß es keine Dichter und Denker, keine Schriftsteller und Philosophen von Rang mehr gäbe, macht das intellektuelle Dilemma aus. Daran ist kein Mangel. Wohl aber an deren Möglichkeit, gesamtöffentlich zu wirken, ihr geistiges Kapital zu transferieren. Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Unterhaltungskultur entwertet dieses Kapital und unterminiert zugleich den darauf aufbauenden Mitnahmeeffekt. Dieser arbeitet nunmehr zugunsten der Hätschelkinder der Kulturindustrie. Was ist das mahnende Wort eines „Geistigen“ gegen das Benefizkonzert eines Popstars oder gegen die Anti-Drogen-Kampagne eines populären Tennisspielers? Eine zirkuläre Praxis, gewiß; eine Praxis, die Prominenz einsetzt und unablässig steigert und alles in eine einzige PR-Aktion verwandelt. Nur ist es gerade diese Tautologie, die Erfolg verspricht und sichert und alle Gegenstrategien mit wachsender Ohnmacht schlägt.

Der mächtigste Gegner erwächst den „traditionellen“ Intellektuellen jedoch in den geistigen Unternehmern der Unterhaltungskultur – den allgegenwärtigen Journalisten, besonders jenen, die das audiovisuelle Feld bevölkern.

Das allein wäre problematisch genug. Unglücklicherweise bedienen viele Intellektuelle das mediale Spiel, reihen sie sich in einen Wettlauf ein, den sie nur verlieren können. Da sie auf die Gratifikationen nicht verzichten wollen, die der Journalistenintellektuelle zu vergeben hat – mediale Prominenz –, liefern sie eilfertig Diskussionsbeiträge, eilen sie zu Talkshows und zeigen sich erfreut, einen Abend mit Boris Becker, Hendryk M. Broder oder Joop verbracht zu haben. So ratifizieren sie den intellektuellen Sklavenaufstand ihrer vormaligen Diener, im irrigen Bewußtsein, noch immer das Sagen zu haben. Sie übernehmen die Perspektive ihrer Widersacher und gewöhnen sich daran, das Leben unter dem Gesichtspunkt von Moden wahrzunehmen, Ranküne und Feuilleton über Argument und Analyse zu stellen. Keine der großen Debatten, von der Wiedervereinigung bis zum Streit um den Euro, lief unter intellektueller Regie, sah die Intellektuellen auf ihrem angestammten Posten.

Auch aus dem Osten kommt kein Trost. Die „organischen“ Intellektuellen der Arbeiterklasse sind in alle Winde zerstreut. Am schlimmsten traf es die ernst zu nehmenden unter ihnen, die sich zeitlebens als Häretiker verstanden. Verschworene Priester des Wortes, Hüter des ursprünglichen Sinns, des unverfälschten Textes, finden sie in der durchgehend profanen, rundum enttabuisierten Unterhaltungskultur so gut wie keine Anknüpfungspunkte für ihre subversive Praxis. Und was die ehemaligen Dissidenten angeht, so ist deren Wahrheitspathos unter den veränderten Verhältnissen nicht weniger obsolet. Das Beispiel des heimgekehrten Solschenizyn zeigt, in welche kulturkonservativen Sackgassen der Versuch führt, die alte Rolle wiederzubeleben.

Für eine neue, selbstbewußte Intellektuellenpolitik fehlt es am Elementarsten: dem inneren Zusammenhalt, dem Bewußtsein gemeinsamer Intereressen. Daß Intellektuelle die drängenden Gegenwartsfragen zunächst einmal unter sich besprechen, um dann im nächsten Schritt eine öffentliche Dramaturgie zu entwickeln, die festlegt, wer sich wann und wo äußert oder nicht äußert, scheint einstweilen kaum vorstellbar. Und deshalb bleibt es so, wie es ist.

Das zeitgemäße Setting für Zolas „J'accuse“ wäre eine Talkshow, moderiert von Schlingensief, bei der der rebellische Dichter direkt neben Dolly Buster zu sitzen käme. Seine Hoffnung auf öffentliches Gehör nährte sich von deren entblößtem Busen. Wolfgang Engler