■ Schlagloch
: Ein bayerisches Sittenbild Von Christiane Grefe

„Die entscheidende Frage des nächstens Jahrhunderts wird sein: Wer lacht über wen?“ Matthias Beltz

Föhn-Idylle, Champagnerluft, 16 Grad schon seit Tagen. Die Sonnenbrille sitzt auf der Nase und wir am Starnberger See, während die Kinder Steinchen über die funkelblaue Wasseroberfläche hüpfen lassen. Kristallklar die Alpensicht, eine Landschaft zum Zerspringen schön: bei solchem Anblick im Januar-Frühling weiß jeder wieder genau, warum er in Bayern lebt.

Auch sonst bietet unser gesegnetes Finanzausgleich-Geberland zur Zeit wieder mal Bavarica im Überfluß. Folgende Frage stellt sich zum Beispiel im Grabenkampf um den Bundestagswahlkreis München Süd: Gab es im Hotelzimmer eines der Kontrahenten nach der Junge-Union-Landesversammlung „Sauforgien“ oder doch nur „politische Nachbetrachtungen in lockerer Atmosphäre“? Ferner brennt die Öffentlichkeit auf Erhellung, ob ein CSU-Landtagsabgeordneter von seinem Parlamentsapparat aus teure Telefonsex-Gespräche führte. Es feuchtwangert. Und Stoiber inszeniert sich zu Neujahr im Kaisersaal der Residenz als Strauß-Reinkarnation. Kabarett für alle, ganz ohne Eintritt – wie angenehm ungebrochen können sich hier auch in neuen, komplizierten Zeiten die einen wie eh und je auf die Schultern und die anderen prustend auf die Schenkel klopfen.

Doch hinter dem pointenreichen Sittenbild steckt mehr, und nicht zuletzt wegen der selbstbewußten bayerischen Rückzugsattacken auf Euro, föderalen Finanzausgleich und Sozialversicherungen verfolgen wir dieser Tage interessiert die hiesige politische Kultur. Jenes nun allenthalben so gelobte Modell für vergleichsweise hohe wirtschaftliche Stabilität, das ja in nicht nur symbolischer Anlehnung an den Ewigen Strauß unter anderem auf dem kunstvollen Umgang mit Widersprüchen basiert: ländlich-konservative Tradition und globale High-Tech-Modernität, Prinzipientreue und Pragmatismus, kirchliche Rituale und weltliche Doppelmoral – nirgends sonst gehen scheinbare Unvereinbarkeiten so selbstverständlich und oft borniert zusammen.

Ein spezielles, aber aktuelles Beispiel ist die Abtreibung: Deren Verbot hat Kardinal Wetter wieder lautstark gepredigt, mit einem bösen Vergleich zwischen Schwangerschaftsabbruch und Lustmord, den er nach heftigen Protesten dann doch nicht gezogen haben will. Wir können uns allerdings nicht erinnern, daß der gleiche Münchener Erzbischof den „fundamentalen Wert des ungeborenen Lebens“ ebenso feurig wie vor den angeblich so eigennützig familienflüchtigen Frauen auch vor den Erfordernissen jener Zukunftsindustrien geschützt hätte, auf die CSU-Politiker schon lange und erfolgreicher als andere Bundesländer setzen. Wie etwa bewerkstelligt wohl die biotechnische Forschung ihren Embryonenverbrauch? Katholische Moraltheologen schlagen da erstaunliche Haken: Zellen, Gewebe und Organe menschlicher Föten könnten, schreibt etwa Johannes Gründel, „unabhängig von der sittlichen Beurteilung eines erfolgten Abbruchs“ zu Forschungs- und Therapiezwecken genutzt werden, „wenn der Schwangerschaftsabbruch mit diesem Vorgehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht“. Dem Kaiser, was des Kaisers ist?

„Weniger Abtreibungen“ – damit holt sich der Kaiser jedoch umgekehrt ethische Argumente für die Gentechnik; so präsentiert in einem rollenden Labor namens „Biotech-Mobil“, das fünf bayerische Ministerien soeben durch 89 Gymnasien schicken. Eine kühne Behauptung; tatsächlich dürfte die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche eher zunehmen, wenn immer weiter verbreitete gendiagnostische Verfahren den Frauen eine solche Entscheidungsoption überhaupt erst nahelegen. Doch ähnlich einseitig sind auch viele andere Hochglanz-Informationen, die Schüler in diesem rollenden PR- Labor in die Hand kriegen. Kein Wunder – haben doch der Verband der Chemischen Industrie, Monsanto, Hoechst, Boehringer Mannheim u.a. mit dafür bezahlt. So öffnet Bayern im wilden Standortritt auch die Grenzen zwischen Industrie und Staat gänzlich unverkrampft. Schulsponsoring ist zwar seit kurzem erlaubt – aber dergleichen unverblümte Verbindung zwischen Geld, Interesse und Inhalt dürfte hart an die Grenzen des Schulgesetzes stoßen. Zur Erfolgsmodellrezeptur gehört offenbar neben Katholizismus und Konkurrenzkampflust untrennbar das dritte „K“, die Kulanz – als „Liberalitas Bavariae“ vor allem bekannt aus der Kultur.

Peinlich überrascht und ganz von den Socken über die „freundschaftliche Atmosphäre beim verketzerten Klassenfeind“ CSU zeigte sich ja gerade Wolf Biermann bei deren Klausurtagung in Kreuth. Der Ex-Kommunist bei den Schwarzen: Ach, wie bin ich doch eckig und kantig und im Lande der einzige Demokrat! Doch interessanter als die eitle Nonkonformistennummer des großen Poeten waren die Christsozialen, wie sie vor Weltoffenheit beinahe platzten: Bruhaha, eine Mafia, eine Bande hat er uns genannt! Und: Da schau her, wie er unsere unmenschliche Ausländerpolitik geißelt! Wie sie sich aber andererseits genüßlich ihr Weltbild stabilisieren ließen: Mucksmäuschenstill sollen die Herren Biermanns Stasi-Erzählungen gelauscht haben, als hörten sie davon zum allerersten Mal. Und dann seinen Schilderungen, wie es den Ostdeutschen heute längst „zu gut“ gehe, indem sie, so Biermann angeblich laut Focus, „im C-Klasse- Mercedes“ säßen und über die Zeitläufe schwadronierten; mehrheitlich vermutlich in Brandenburg und Mecklenburg?

Daß Biermann ihnen auch noch Absolution für ihre Regionalegoismen erteilen würde, hätten Waigel & Co. wohl nicht zu träumen gewagt. Am Ende drückte der Wolf den Löwen gar im Spiegel seine „Bewunderung“ aus, „daß diese ewig hinterwäldlerischen Urbayern, über die wir so billig unsere urbanen Witzchen reißen, eigentlich durch die Gunst der Epoche jetzt besser dastehen als“ – sic! – „wir Deutschen“. Wer lacht wohl zur Zeit über wen?

Dabei dankt ja der südliche Sonderweg seinen technologischen Vorsprung nicht zuletzt den jahrzehntelangen „deutschen“ Finanzspritzen. Bis heute hängt Bayern am europäischen Agrartropf. Von sozialer Ausgrenzung wollen wir nicht reden. Verzögert und langsamer zwar als im mit alten Industrien verbauten Norden, steigt doch auch hier die Arbeitslosigkeit. Und all das erkennen selbst Teile der CSU, die ja nicht nur eine „Spezl“-Wirtschaft ist, sondern eine munter und höchst demokratisch „zerstrittene“ Volkspartei.

Bloß heil ist die bayerische Welt also doch nicht; Föhn macht auch Kopfschmerz. Unser urbayerischer Nachbar ist gestern sogar richtig explodiert. Ein eleganter Herr im weißen Trenchcoat. Jetzt aber schrie er ohne Vorwarnung urplötzlich los: „Ich will einen Winter! Einen WINTER! Sofort!“ Und wie im Fellini-Film fuhr es aus ihm heraus: „Schnee! Ich will Schnee!“ In letzter Frage sind Bayern auf ganz altmodische Weise konservativ.