Herzschlagfinale bei Sixdays

■ Nach mehr als 1.000 Kilometern gingen vier Mannschaften in die letzte Runde

Von Stimmungsknick keine Spur am Finaltag der 34. Bremer Six- days. Im Unterschied zum Auftaktabend, an dem das Gros des Publikums das Kampftrinker- dem Sportprogramm vorgezogen hatte, strömten am Dienstag um 22 Uhr 45 selbst die hartleibigsten Nichtsportler ins Oval. Diese letzte und alles entscheidende Jagd wollte sich niemand entgehen lassen, der noch irgendwie bei Sinnen war. Vier Mannschaften lagen rundengleich an der Spitze und hatten eine Stunde vor Abschluß der Sixdays alle Chancen auf einen Sieg. Mit aufpeitschender Stimme kündigte der Stadionsprecher ein „Herzschlagfinale“an – und das sollte es werden.

Mit der Startnummer eins hatte sich das italienische Team Martinello/Silva in den Kreis der Favoriten gefahren. Sie hatten im Vorjahr beim Bremer Rennen den zweiten Platz belegt und wollten diesmal ganz nach oben aufs Treppchen. Die Startnummer zwei trug der Italiener Adriano Baffi, diesmal im Team mit dem Vorjahressieger und Lokalmatador Andy Kappes. Zum Bremer Publikumsliebling aber hatte sich der Schweizer Bruno Risi hochgestrampelt. Mehrfach hatte er, wie von einem unsichtbaren Band gezogen, in jähen Sprints das Feld überrollt und dabei die ZuschauerInnen aus ihren Sitzen gerissen. Beim letzten Rennen vor dem Finale hatte der Mann im gelben Trikot gar einen neuen Bremer Rundenrekord (8.78 sek) aufgestellt und war mit 68 km/h über die Bretter geflogen. Ihm und seinem Partner Kurt Betschart gehörten die Herzen der Menschen auf den Rängen.

Ohne Runden-, aber mit großem Punkterückstand startete das dänische Team Veggerby/Madsen ins Finale. Sie hatten sich den ganzen Abend über sehr bedeckt gehalten und nur wenige Punkte eingeheimst. Mancher meinte bereits, sie unter „ferner liefen“einordnen zu können, sie schienen einfach nicht in Schwung zu kommen. Nur wirkliche Insider sprachen noch von „möglicher Taktik“. Tatsächlich ließen die Dänen gleich zu Beginn des Finales die weißen Kreuze auf rotem Feld, mit denen sich die Fangemeinde die Wangen bemalt hatte, erhitzt aufleuchten: Nach acht Minuten wagten Veggerby/Madsen den ersten Ausbruch aus dem Feld.

Noch nie war es ihnen gelungen, in Bremen zu siegen. Ein dritter Platz 1996 war in der Hansestadt ihre bislang eher magere Bilanz. Doch ihr Antritt zum ersten Versuch, die Meute abzuhängen, verriet absoluten Siegeswillen. „Jetzt schauen Sie sich das an, das gibt es nicht“, brüllte der Sprecher durchs Hallenmikro. Veggerby/Madsen holten die Runde, allerdings dicht gefolgt von Kappes und Baffi. Da gab es kein Pardon mehr für Martinello/Villa und Risi/Betschart. Sie mußten aufholen. Wenige Minuten später hatten sie es geschafft.

Das Oval kochte, als es in die letzten zehn Minuten ging, bei denen die rundengleichen Mannschaften noch einmal ihren Punktestand verbessern konnten. Da passierte es: Veggerby/Madsen nutzten einen Moment der Unachtsamkeit ihrer Rivalen aus und flogen davon. Sie stiegen aus dem Sattel und mit ihnen die ZuschauerInnen. Ältere Damen kreischten wie Cheerleaders angesichts ihrer Boygroup, gesetzte Herren in teurem Zwirn gröhlten die Namen ihrer Favoriten. Doch die würden beim jetzigen Rundenrückstand auf die Dänen zweifellos verlieren.

Den aufzuholen, traute man allein den Schweizern zu. Und Risi versuchte es. Mit geducktem Oberkörper legte er innerhalb von Sekunden 20 Meter zwischen sich und die nachfolgende Meute. Die aber ließ ihn nicht mehr davon und holte ihn wieder ein. Vorbei. Der Sieg war den Dänen jetzt sicher. Doch Risi/Betschart gaben nicht auf, sie kämpften verbissen gegen Kappes und Baffi um den zweiten Platz. Vergeblich. Die sympathischen Schweizer verloren auch diesen Fight um wenige Zentimeter.

Schade. Sie hatten dem Publikum das meiste geboten und dafür gesorgt, daß Bewegungsignoranten an diesem Abend zu probaten Radsportfans mutierten. Einer von ihnen, der sich in der Hitze des Rennens an der Schulter der Chronistin festgekrallt hatte, bestätigte dies am Ende mit der kühlen Empathie des Bremers: „Diese Schweizer, die sind einfach große Klasse.“

Dora Hartmann