Schaun wir mal, was fliegt und was nicht fliegt

Daniel Libeskind gehört zu den prominentesten Architekten der Gegenwart. Seit er 1988 den Wettbewerb für den Bau des Jüdischen Museums gewann, hat er in Berlin ein eigenes Büro eröffnet und beteiligt sich so intensiv wie kritisch an der Debatte um die Gestaltung der neuen Hauptstadt. Im Interview gibt er Einblick in seine persönlichen Erfahrungen und Ansichten, die sich in all seinen spektakulären Entwürfen wiederfinden lassen. Das Gespräch führten  ■ Harald Fricke und Andrea Goldberg

taz: Herr Libeskind, seit 1987, als Sie zu einigen IBA-Projekten eingeladen wurden, sind Sie in Ihrer Arbeit als Architekt mit Berlin verbunden. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Eindruck von der Stadt?

Daniel Libeskind: Ja, sicher. Das war ein Ergebnis dieser IBA-Ausstellung. Ich war 1983 zum ersten Mal in Deutschland. Es versetzte mir (im guten wie im schlechten Sinne) einen Schock, wie phantastisch diese Stadt war, und es brachte mir auch die Zerstörung der Stadt sehr nahe, die ich aus der Geschichte kannte. Ich bin nicht weit von Berlin aufgewachsen, im polnischen Lodz, also in der Nähe des Berliner Rings. Deshalb war mir die Stadt nicht fremd. Die Vorstellung Berlin war mir auch deshalb immer sehr nahe gewesen, weil mein Onkel hier an der Humboldt- Universität studiert hatte, bevor er 1933 fortging. Nur ist es eine Sache, sich an etwas zu erinnern oder daran zu denken, aber etwas ganz anderes, die Stadt heute als reale Stadt zu sehen.

Nach der Zerstörung des alten Berlin hatten Sie nun Ost-Berlin, die Hauptstadt der DDR, und West-Berlin, eine Art Insel, eine auseinandergebrochene Stadt – war das für jemanden, der neu nach Berlin kam, ein Gebilde, von dem man sich angezogen fühlen konnte, oder etwas, von dem Sie erst einmal dachten: Das wird eine Weile dauern, bis ich mir davon einen Begriff machen kann?

Nein, ich glaube, es ist sehr leicht, sich von der Stadt anziehen zu lassen. Für mich waren Ost und West beides Inseln im Abgrund der Nachkriegszeit, Eistrümmer im Schmelztiegel Europas. Aber das Begeisternde an Berlin war der optimistische Geist der Menschen. Man traf originelle Menschen, Menschen, die nicht einfach ein Teil Deutschlands waren oder Bestandteil irgendeiner Abstraktion, sondern Träumer mit einem avantgardistischen Bewußtsein. Es sind niemals nur die Steine, sondern die Menschen und ihre Phantasien, die eine Stadt ausmachen.

Wenn Sie sich heute in Ihren Aufsätzen auf die Berliner Geschichte beziehen, zitieren sie Namen wie Walter Benjamin, Karl Kraus, Alfred Döblin. Woher kam das Interesse an der Literatur?

Das waren keine Namen, die ich erst bei meinem Besuch in Berlin entdeckt habe. In erster Linie waren sie der Grund, warum ich überhaupt herkam, warum ich an diesen Wettbewerben teilgenommen habe. Warum sonst hätte ich denn teilnehmen sollen? Weil man an diesen Themen interessiert ist, interessiert man sich für diese Stadt; man liebt die Geschichte und die Kultur dieses Ortes, und man hat das Gefühl, es sei wichtig, dazuzugehören und ein Stück Verantwortung zu übernehmen.

Noch immer sind Ihre Visionen sehr stark von der Auseinandersetzung mit diesen Texten geprägt. Reizt Sie die konkrete visuelle Beschreibungskraft der Autoren, oder nutzen Sie die Literatur eher, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen?

Es ist beides: die Stadt und die Vorstellung von ihr. Vergangenheit und Zukunft wirken in einer unausweichlichen Dimension, in einer Atmosphäre der Realität. Realität besteht nicht einfach aus Objekten und Kausalbeziehungen. Sie besteht aus der globalen Vorstellung von dem, was möglich ist und was abläuft. Außerdem ist Realität das Produkt der Möglichkeit, nicht umgekehrt. Sicherlich: Literatur, Kunst, Malerei, Geschichte, Briefe aus den Archiven, Erinnerungen – die Stadt selbst besitzt diese Qualitäten. Aber sie ist nicht einfach nur eine Abstellplatz für Geschichte. Der Name Berlin ist ein geheimes Code-Wort, ein Symbol für diese Dinge, nach denen Sie fragten. Hier geht es nicht allein um Sichtbares, um Monumente oder Kontinuität – und auch nicht solche offensichtlichen Dinge, wie man sie in anderen Städten mit einer glücklicheren Geschichte findet. Es liegt viel mehr an dem unwiderruflichen Schicksal, daß das Sichtbare unsichtbar wird und umgekehrt.

Natürlich gibt es in Berlin besondere Brüche, vor allem in der Architektur, wo sich allein in diesem Jahrhundert fünf Systeme zu überlagern suchten. Was also bedeutet es für Sie, wenn Sie darauf aufbauen wollen?

Nun, gerade das macht es ja so offensichtlich, was Geschichte hier bedeutet. Weil in anderen Städten die Diskontinuität, dieser Riß – obwohl möglicherweise existent – nicht so eindeutig zutage tritt. In Berlin ist diese Diskontinuität Material geworden, sie ist sehr graphisch und sie gehört zum städtischen Raum, ist Teil der Orientierung an Straßen und Gebäuden. Wir dürfen nicht vergessen, daß Berlin eine sehr junge Stadt ist, eine moderne Stadt, die innerhalb von zweihundert Jahren fast aus dem Nichts entstand und fast wieder zu nichts zerstört wurde. Deshalb ist es ein sehr charismatischer, tragischer und interessanter Ort, gerade wegen dieser offensichtlichen Beziehungen, zu denen man auch dann Zugang erhält, wenn man kein intellektueller oder literarisch interessierter Mensch ist.

Wie versuchen Sie Ihr Konzept dieser bestehenden zufälligen Konzeptmischung aufzupfropfen?

Genau das möchte ich nicht. Ich versuche, das Denken und die Architektur und den städtischen Geist in den komplexen, ausgefransten, häufig entwurzelten Rahmen Berlins einzupassen; das ist keine Metapher, es ist die Realität, es ist nicht einfach die Addition einzelner Stücke oder der Versuch, einen leeren Raum mit einem Objekt zu füllen. Es ist das Verständnis der mehrwertigen Beziehungen dieses schwierigen Vorgangs, der nicht einfach auf einer physikalischen Ebene abläuft, sondern immer auch auf einer kulturellen und spirituellen Ebene.

Was erscheint Ihnen am Bauboom in Berlin positiv, was besonders negativ?

Positiv ist die Energie, der Wiederaufbau, die konstruktive Vorstellung, daß die Stadt lebt, vor hauptstädtischem Denken, Phantasie und Leben sprüht. Negativ daran ist der Leichtsinn: daß in dieser Geschwindigkeit wichtige Aspekte der Erinnerung mit dem Verweis auf das Bauen in den Hintergrund geschoben werden. Das wird die Stadt noch verfolgen, wie bei jeder schnellen Entwicklung – sogar zur Zeit Palladios, der selbst ein großer Architekt, Klassizist war, Schöpfer eines ganzen europäischen Stils: Er sagte, die schlimmsten Zeiten für die Architektur seien die Zeiten schneller Entwicklung. Weil man sich dann wenig um Architektur kümmert, sondern mehr ums schnelle Geld.

Es ist alles so gekommen, wie Sie es selbst 1992 in einem Aufsatz über den Potsdamer Platz und dessen Zukunft vorausgesagt haben.

Nach fünf Jahren ist deutlich geworden, daß es hier keine begeisternde Entwicklung gibt, keine phantastischen kulturellen Ideen. Es ist einfach aufgewärmtes Fleisch mit trockenen Kartoffeln – eine schnelle Ausbeutung des Raums. An die städtischen Qualitäten hat die jetzige Generation der Architekten mit ihren Computern nicht allzu viele Gedanken verschwendet.

Welche städtische Qualität fehlt Ihnen am meisten?

Orte, an denen Menschen zusammenkommen können. Es ist erstaunlich, daß in Berlin so gut wie gar keine öffentlichen Räume geschaffen worden sind, in denen die Menschen fröhlich zusammen kommen können, wo sie Kaffee trinken und miteinander sprechen können, ohne in eine Art Einkaufszone zu geraten oder in eine Zone, die schon in die Privatsphäre gehört. Aber ein großer Teil dieser Zerstörung öffentlicher Räume dürfte auch deshalb passiert sein, weil die Stadtentwicklung zum ersten Mal überhaupt vollständig auf Abstraktion gegründet ist. Auch früher wurden Städte wiederaufgebaut, aber in den Wiederaufbau gingen immer auch Fragmente der Geschichte ein, es war immer eine Art weitergereichte Erfahrung.

Hier wird zum ersten Mal eine Stadt mit dem Computer wiederaufgebaut, ohne jedes historische Bewußtsein von der Bedeutung dieses Vorgangs. Wenn man also auf dem Potsdamer Platz umhergeht, sieht man dort sehr eindrucksvolle Gebäude, man ist beeindruckt von der hochentwickelten Technologie und der glitzernden, silbrigen Auskleidung eines raffinierten Traums. Aber es läuft auch etwas sehr Gefährliches ab: Wir befinden uns in einer Umgebung, die in simulierten Computerbildern und falschen Perspektiven geschaffen wurde. Niemand hat jemals eine einzige Linie des gesamten Komplexes mit der Hand gezeichnet. Alles wurde am Bildschirm produziert, wir werden es durch einen Bildschirm sehen, und wir werden ein Bestandteil dieses Bildschirms werden. Darin liegt der avantgardistische Teil dieses Wiederaufbaus – ein Experiment im Weltmaßstab. Ich weiß von keiner Stadt, die so vollständig ohne einen Blick zurück und ohne einen Blick in die Zukunft wiederaufgebaut worden wäre.

Also empfinden Sie es auch als Ironie, daß am Potsdamer Platz Fassaden gebaut wurden, noch ehe man mit den Häusern begonnen hatte: das neue Zentrum – nichts als sinnentleerte Transparenz?

Genau, und wenn man in diese Infobox geht, sieht man genau das, was man dort bekommt.

Wo also ist es schiefgelaufen?

Wer will einen solchen Prozeß kritisieren? Früher hätte man ihn den Göttern zugeschrieben. Es geht hier nicht darum, daß etwas schiefgelaufen ist – die Stimmen dagegen waren einfach nicht laut genug, die Zweifel an der Richtung dieser Entwicklung hatten. Zu viele Ideen wurden von Bürokraten und Chefideologen ausgeschlossen. Wir haben moderne Simulationen, wir haben Abstraktionen, neue Technologien, all das hat seine Bedeutung. Aber es gibt auch noch etwas anderes, von dem sich eine Stadtentwicklung leiten lassen muß, es geht nicht nur um das Raster, nicht nur um die Technologie, die leblosen Baustoffe – es muß um die Menschen gehen, die sich an einem Ort wiederfinden, wie die Menschen denken, wie die Menschen einen Türgriff anfassen. Was erwarten sie am Horizont? Das sind direkte, simple und politische Fragen, die man hätte stellen müssen. Wenn man sie in der Stadtplanung nicht beantwortet, schafft man mit dem Raum nichts als Leere.

In Ihrem Projekt für den Potsdamer Platz vertreten Sie die Ansicht, städtischer Raum sei ein Feld für permanente und unmittelbare Beziehungen, ob nun zur Vergangenheit oder zur Gegenwart des Menschen, der sich dort tatsächlich aufhält. Es erinnert an situationistische Ideen.

Nein, das ist nicht situationistisch, weil die Architektur sich nicht ändert. Man kann die Architektur nicht ausschalten und willkürlich wieder einsetzen, das geht nur in simulierten Technologien. Architektur ist nicht interaktiv, sie existiert schon seit langem. Aber ich glaube, man muß sie als eine andere Art Struktur wahrnehmen und neu überdenken. Es ist nicht mehr einfach eine Struktur, die unter dem Aspekt Nord-Süd-Ost-West angeordnet wurde, mit einem Raster, das die Entwicklung dominiert. Sie muß an menschlichen Wünschen orientiert sein, an Bedürfnissen, an der Ökologie, den Fragen der Arbeit, an Kindern. Diese Fragen werden in der Stadtentwicklung von heute niemals gestellt. Wer hat nach der Arbeit gefragt, nach Frauen und Kindern oder was man nach fünf oder sechs Uhr auf dem Potsdamer Platz eigentlich noch tun soll. Niemand hat diese Fragen gestellt, und das wird ein offensichtliches Loch darstellen.

So wie das Dilemma, daß die neue Friedrichstraße einer Geisterstadt gleicht?

Genau. Die Straße ist tot. Eine Nicht- Identifikation der Menschen mit der Stadt. Es ist eine so fremde Idee, es ist ein fremder Vorgang. Men in Black.

Was halten Sie vom Verschwinden des größten Berliner Bauwerks, der Mauer?

Darin sehe ich bestenfalls eine Ironie. Als ich damals auf dem Dach des Springer- Hochhauses interviewt wurde, schaute ich herunter und sah die Bulldozer und fragte die Frau, die mich interviewte: „Warum tun sie das?“ Sie sagte: „Ich weiß nicht. Sie räumen einfach auf.“ Man hätten wirklich genauer darüber nachdenken sollen, es war ein schrecklicher Fehler. Als allererstes wurde die Mauer vollständig abgerissen – ein Reflexanfall von Amnesie. Es ist eine schnelle Art des Vergessens, wie bei einer Amputation – aber danach bekommt man Phantomschmerzen, so wie das amputierte Glied physiologisch weiterexistiert. Man empfindet die Schmerzen, man fühlt alles, obwohl man den Arm oder das Bein gar nicht mehr besitzt. Es ist die Verbindung des Glieds zum Gesamtorganismus. Deshalb, finde ich, hätte man sorgfältiger darüber nachdenken müssen, welche Art Erinnerung die Mauer konstituiert hat. Ich verlange ja nicht, die Stadt sollte geteilt bleiben oder die ganze Stadt sollte zu einer Erinnerungsmaschine werden. Aber mit Sicherheit fehlt uns heute die Mauer. Die Besucher fragen: „Wo war die Mauer? Warum ist sie abgerissen worden? Können wir sie nicht sehen?“ Nun überlegt der Senat, wie man jetzt ein Mahnmal daraus machen kann, wie man Teile davon synthetisch wiederaufbauen kann, um den Menschen vor Augen zu führen, daß es in dieser Stadt etwas Wichtiges gab.

Hatten Sie eine Idee, was man damit machen könnte?

Sicher, das hatten viele Menschen. Ich glaube, man hätte seine Phantasie anstrengen sollen, man hätte Teile davon für die Zukunft stehen lassen sollen, um erleben zu können, wie sich die Geschichte der Stadt angefühlt hat. Man hätte dieses interessante Element mit einbeziehen können – wie Beuys schon sagte: Das Problem war, daß sie ein bißchen zu niedrig war. Sie war ein faszinierender Teil der Realität, und es ist symptomatisch für Berlin, daß die Geschichte eher in Wellen abzulaufen scheint, in Wellen des Schaffens und Entfernens, und nicht im Verständnis dessen, was dieses Schaffen und Entfernen miteinander zu tun hat.

Abgesehen von Berlin arbeiten Sie in vielen Städten. Haben sie „Traumprojekte?“

Architektur ist an sich schon ein Traumberuf. Es geht in Wirklichkeit gar nicht um Geld oder Kapital, es geht im Grunde um eine Idee, um ein Bild, um etwas, das man sich wünscht und das noch nicht existiert. Und wenn man sich Menschen vorstellt, die Millionen und Milliarden Mark für den Potsdamer Platz ausgeben, nur auf der Grundlage von ein paar Fetzen Papier, einigen simulierten Perspektiven, ein paar Modellen, dann liegt darin das Wesen dieses Berufes. Es ist ein sehr, sehr eigenartiger Bereich, denn solange er losgelöst ist von der öffentlichen Diskussion, solange er nicht in die öffentliche Debatte einbezogen wird, bleibt er ein Traumprodukt.

Sie sagten, es sei nicht nur die materialistische Seite, die jemanden zum Architekten mache. Was hat Sie selbst von der Musik zur Architektur geführt?

Das wüßte ich auch gern. Ein Freund hat mir einmal gesagt, materiell gesprochen sei es mit Sicherheit ein schwerer Fehler gewesen, denn mit fünfzehn verdiente ich auf der Bühne mehr Geld, als ich in Zukunft je verdienen werde. Aber irgendeinen Zusammenhang muß es geben, denn Musik, Architektur, Mathematik bilden einen Ton, eine Tonalität. Was ist denn Architektur, was ist die Stadt anderes als eine Art Klang. Letzten Endes ist das vielleicht der Grund, warum Musik ein so wichtiger Bereich ist – weil man in der Musik Dinge hören kann, die man später nur im Raum der Stadt erfahren wird. Es gibt da eine Beziehung.

Eine Beziehung wie der Rhythmus des Fließens, den man wahrnehmen kann, wenn man durch Gebäude oder an Gebäuden vorbeigeht und den Rhythmus des Lebens verspürt? Rührt zum Beispiel daher vielleicht auch Ihr Interesse für Schönbergs Zwölftonmusik, in der Sie nicht die Hast spüren, sondern eher die Komplexität beständigen Wachstums? Und wie stehen Sie andererseits zur Alltagskultur, für die Aldo Rossi einen Techno- und Unterhaltungs-Tower in der Nähe des Potsdamer Platzes bauen wird?

Das kann man ganz verschieden sehen. Manche Leute glauben, Kultur sei unausweichlich zur Disneyfizierung, Degradierung, Verbilligung verurteilt, sie gehe unter den Händen der Marketing-Leute und Ausbeuter aller Art zugrunde. Aber ich glaube, die Kultur gibt es weiter, ich glaube, Schönberg ist Alltag. Für mich ist nicht Disneys Neuerschaffung der Realität real – real ist die wahre Kultur, die weiterlebt, trotz aller Schwierigkeiten, Komplexitäten und Umwandlungen. Ich glaube, auf die Dauer wird es nicht die Hast und Eile der Gegenwart sein, es wird die Schönbergsche Lücke sein, jener Moment der Spannung, der tatsächlichen Entwicklung. Schönberg war nicht der letzte Klang, den die Kultur hervorgebracht hat – nehmen wir Luigi Nono und Alfred Schnittke und andere, dann sehen Sie, daß dort Bewegung vorhanden ist, und daß die Realität diesen Klang immer wieder einholt.

Manche Leute kritisieren, daß Sie sich als Architekt zu sehr auf die künstlerische Erfahrung einlassen.

Das sind nur die Heiden oder profanen Barbaren, die der Meinung sind, Architektur sei irgendein technokratischer Vorgang. Architektur war immer eine Kunst und wird es immer sein. Und was ist denn Architektur, wenn nicht die höchste Form der Kunst, weil sie alles umschließt, vom Geld bis zur tiefgründigen Natur des Raums an sich. Ja, sie ist eine Kunst, und exakt zu dem Zeitpunkt, als sie zu einem Betrieb wurde, als sie sich von der Kunst löste und schlicht zum Bauen als Management wurde, fiel sie in einen Abgrund, geriet sie in eine Sackgasse. Wenn irgendetwas in dieser Welt passieren wird, dann dies: daß die Menschen erkennen, daß sie die Stadt als ein Kunstwerk brauchen. Sie ist nichts anderes als ein ganz besonderes Kunstwerk, nicht von einem einzelnen Menschen erschaffen, sondern von allen, nicht in einem einzigen Moment hervorgebracht, sondern durch die Geschichte.

Also denke ich, ja, es ist eine Kunst, ohne jeden Vorbehalt – aber eine Kunst, die wie alle Künste mit dem Alltag zurande kommen muß. Warum sollte Kunst in irgendeinen Zoo verbannt werden? Auf das Alltagsleben kommt es an, nicht bloß auf die paar Minuten, die wir zu unserer Unterhaltung brauchen.

Trotzdem hat diese Vorstellung Kritiker zu der Behauptung provoziert, Sie arbeiteten mehr auf einer metaphysischen Ebene, nur um zu beweisen, daß es diese künstlerische Freiheit gibt.

Das ist unberechtigt. Sehen Sie sich das Jüdische Museum an. Das ist ein Gebäude, das der Geschichte von Kreuzberg angehört, und anderen städtischen Räumen sehr nahe steht; es ist kein Gebilde, das autonom wäre oder vom Himmel heruntergefallen. Es ist ein Teil vom Raum, wie auch längst vergangener Gespräche, vergrößerter Erfahrungen. Nein, diese Kritik akzeptiere ich nicht. Aber es stimmt, daß alles, was neu ist und eine bestimmte Originalität aufweist, alles, was über die alltäglichen Erfahrungen hinausgeht, seiner Definition nach Kunst ist. Deshalb wird Kunst – wie Poesie – von der Allgemeinheit häufig nicht anerkannt, sie wird als Außenseiterphänomen betrachtet. Dennoch ist es mein Versuch, das Neue in das Gewebe der Tradition zu integrieren und das funktionieren zu lassen.

Sie sprechen von einem Museum als „Katalysator und Vermittler der Realität... (eine Kraft) zur Schaffung von Erfahrungsräumen, zur Wiederbelebung von Geschichte, um Bilder zu verwandeln und neue Möglichkeiten zu schaffen“. Schaffen Sie die Tempel einer neuen Zeit?

Keinen Tempel, aber ich glaube, es ist ein Ort, an dem die Menschen interessiert sind, etwas über die Geschichte Berlins herauszufinden, was mit der jüdischen Bevölkerung geschah, was mit der Stadt geschah, was die Stadt wirklich ist. Es ist ein offener Ort. Es gibt viele Geschichten, die auf vielen verschiedenen Ebenen erzählt werden müssen. Daher halte ich das für einen interessanten Ort, den es zu erforschen gilt.

Aber nicht nur in Berlin, sondern auch im Imperial War Museum in Manchester geben Sie sich viel Mühe, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen überdenken können, was sie sehen.

Sicher, ich will nicht, daß die Menschen einfach passiv sind, anonyme Objekte, die durch eine neutrale Präsentation in die Vergeßlichkeit geleitet werden. Ich will, daß die Menschen einbezogen sind und teilnehmen und an der Erzeugung von Bewußtsein teilhaben. Natürlich bedeutet das eine andere Architektur. Es geht nicht um die cartesianischen Räume der Atomphysik.

Anscheinend waren Sie dennoch nicht sehr darauf erpicht, sich an dem Wettbewerb für die Holocaust-Gedenkstätte zu beteiligen, sondern blieben mehrere Jahre lang abseits.

Ursprünglich dachte ich, das Geld würde besser für Sachsenhausen oder Ravensbrück verwendet, an den Orten, die selbst Schwierigkeiten haben. Ich hielt sie für die richtigen Gedenkstätten. Aber das ist eine Utopie, ich habe gemerkt, daß die Menschen, die nach Berlin kommen, niemals nach Sachsenhausen gehen werden. Als ich zum ersten Mal von der Idee las, das Jüdische Museum in eine Holocaust- Gedenkstätte umzuwandeln, wurde mir klar, daß das falsch ist. Das Museum ist ein Museum, keine Gedenkstätte – auch wenn darin teilweise die Erinnerung aufgehoben ist. Deshalb beschloß ich, mich am Wettbewerb zu beteiligen, weil es eben nicht richtig wäre, ein Museum als Holocaust- Gedenkstätte zu nutzen. Es wäre auch nicht sinnvoll, die Idee in Berlin überhaupt aufzugeben.

Sie wollen mit Ihrem Entwurf sogar die Grenzen des zugewiesenen Bauplatzes überschreiten.

Mein Entwurf verbindet die Gedenkstätte mit dem Reichstag, mit dem Brandenburger Tor und seinem städtischen Raum. Es ist ein Projekt in einer offensichtlich politischen Umgebung, kein introvertierter, selbstgenügsamer Ort, und ich habe die Grenzen sehr radikal überschritten, ich dehne sie in den Tiergarten aus, ich beziehe den Fußgänger- und Autoverkehr über den Platz als Teil der Gedenkstätte selbst mit ein. Ich habe wirklich ein Projekt entworfen, das die Auswahl dieses Ortes rechtfertigt, der von Anfang an problematisch war. Viele Leute sagten, das sei der falsche Ort, die Gedenkstätte sollte an einem anderen Ort sein, vor dem Reichstag. Und ich stimmte ihnen zu, weil es ein sehr schwieriger Platz ist, wenn man die von der Bürokratie gezogenen Grenzen als die Grenzen der Gedenkstätte ernst nimmt. Aber so denke ich nicht; die Gedenkstätte muß für die Menschen offen sein, die von Nord-Süd-Ost-West kommen, als wichtiger städtischer Ort der Begegnung, auch wenn sie gar nicht unbedingt zur Gedenkstätte selbst gehen.

Berlins Präsident der Akademie der Künste, György Konrad, argumentiert gegen eine allzu sichtbare Gedenkstätte; angeblich könnten sich die Juden besser gegen die allgegenwärtige Drohung des Antisemitismus schützen, wenn sie sich möglichst wenig bemerkbar machen. Die Gedenkstätte an die Bücherverbrennung, die er dabei zitiert, ist so winzig, daß sie praktisch gar nicht existiert.

Ich kenne Micha Ullman sehr gut; aber diese Gedenkstätte mag ich nicht. Es ist eine Gedenkstätte, die niemand sehen kann. Was wir hier in Berlin brauchen, ist gerade eine vertikale, sichtbare Gedenkstätte, die dem Reichstag und dem Brandenburger Tor ein ebenbürtiger Partner ist, die ein Teil dieser Institutionen ist, in ihrer Welt eine Rolle spielt, auch als ein Teil Berlins für die Zukunft. Deshalb bin ich absolut nicht damit einverstanden, daß die Gedenkstätte eine Art horizontaler Spielplatz sein soll, der sich auf eine minimalistische Kunstvorstellung gründet. Absolut nicht. Ich bin der Meinung, es sollte ein städtischer Raum sein, der mit der Stadt zu tun hat und in dem man auf jede Weise die Stadt sehen kann.

Ich stimme Konrad zu, daß es eine Reihe kitschiger Entwürfe gibt. Aber ich stehe zu dem, den ich eingereicht habe, und ich halte ihn für eine Alternative. Ich bin nicht seiner Meinung, daß man das Gelände zu einem Kinderspielplatz machen sollte. Seine Ideen sind die eines Literaten, und alle Literaten unterschätzen die Macht des realen städtischen Raums. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. In Wirklichkeit geht es um den städtischen Raum, um die Stadt Berlin, es geht nicht einfach um ein Kunstwerk, das auf eine bestimmte Quadratmeterfläche gesetzt werden soll. Es geht darum, wie die Stadt aussehen soll und wo die Erinnerung aufbewahrt ist. Sie findet sich nicht in einem beliebigen Objekt, sie liegt in der Beziehung zwischen Dingen, und deshalb bleibe ich bei meinem Entwurf: Es sind die Beziehungen, die ich zwischen wichtigen Orten geschaffen habe, zwischen dem Goethe-Denkmal und der Gedenkstätte, zwischen Mitte und Reichstag, zwischen diesen Linien, die den Raum durchschneiden und wo wir die Stadt auf verschiedene Weise lesen – oder neu lesen – können.

In Ihrer Dankesrede an der Humboldt- Universität sagten Sie, Sie würden die Gedenkstätte nicht für die Deutschen oder stellvertretend für die Deutschen schaffen, sondern als ein Mensch, der keine einzelne Identität besitzt, aber ein Produkt der Holocaust-Ära ist.

Es ist richtig, ich bin in gewisser Weise ein Überlebender. Meine Schwester und ich sind die einzigen Überlebenden der zweiten Generation einer riesigen Familie. Ich bin hier durch bloßen Zufall. Ich betrachte das als Teil meines Denkens. Ich komme nicht von irgendwoher und sage, von New York aus müßte eine Holocaust- Gedenkstätte in Berlin so und so aussehen. Ich bin, im guten wie im schlechten, ein Teil dieser Stadt, ich bin sowohl drinnen als auch draußen.

Kommen wir zum Herzen der Stadt. Wie steht es mit Ihren Projekten am Alexanderplatz?

Nun, ich habe mich bei der Verwaltung der Stadt nicht gerade beliebt gemacht. Man muß sich klarmachen, daß die meisten Wettbewerbe niemals ein Gebäude zum Ergebnis haben, es geht einfach um Ideen: Schauen wir mal, was fliegt und was nicht fliegt. Wie ich oft sage: Einen Wettbewerb gewinnen ist an der ganzen Sache das Einfachste. Die eigentliche Aufgabe liegt darin, etwas zu bauen und es auf sinnvolle Weise zu bauen.

Im Alexanderplatz-Wettbewerb habe ich den ersten Preis aus ideologischen Gründen nicht bekommen. Ich habe mit einer Stimme verloren, aber es war schon von Anfang an entschieden, wer gewinnen würde. Aber ich war immer davon überzeugt, daß ich der Stadt das Bild gäbe, wie sie wirklich aussehen sollte.

Es macht nichts, wenn man einen Wettbewerb verliert. Ich weiß nur, daß die 16 Wolkenkratzer niemals in einem Gitternetz gebaut wurden. Denn das ist absurd. Diese Häuserblocks, die abgerissen werden sollten, die Einwohner, die man umsiedeln wollte, das ist nie geschehen, so wie das in all diesen idealen Projekten vorgesehen war. Man muß sehr geduldig sein. Vielleicht wird sich irgendwann irgend jemand dafür interessieren, daß man auch auf andere Weise damit umgehen kann.

Sie schlugen viele Elemente vor, die sofort hätten realisiert werden können.

Es ist interessant, daß selbst die FAZ – normalerweise nicht auf meiner Seite – schrieb, dieser Plan sei der einzige wirklich pragmatische, weil er sich nicht auf irgendeinen totalitären Plan stützte, sondern auf eine sehr eingebettete und unmittelbare Verbesserung öffentlicher Räume. Aber wer weiß. Berlin hat kein Geld, aber vielleicht taucht jemand auf. Ich habe sogar einen interessierten Investor, aber es ist eine Frage der Zeit, eine Frage der städtischen Politik, eine Frage umfassenderer Entscheidungen. Ich glaube, wenn man sich auf einen Plan wie diesen einlassen will, müßte man eine andere Vorstellung davon haben, wie die Stadt der Zukunft aussehen soll. Und man müßte auch ihre Vergangenheit anders verstehen.

Sie sagten, man müsse geduldig sein; könnte es nicht sein, daß es für Ihre Ideen vielleicht eine neue Generation gibt, die mit den Problemen der Stadt aufwächst und Teil der Stadt ist?

Angesichts des Alters meiner Zuhörer – wenn ich in Deutschland Vorträge halte, kommen manchmal sehr viele Leute – sage ich immer, daß ich zu alt sein werde, wenn sie erst einmal in einer Position sind, daß sie Aufträge erteilen können. Aber die Architektur ist nun einmal eine langwierige Angelegenheit. Es dauert seine Zeit, bis Ideen gefiltert werden, und mir ist klar, daß man geduldig sein muß.

Sie haben sich immer gegen eine Art Gesamtplan ausgesprochen – womit Sie sich gegen Architekten wie Rem Koolhaas wenden. Stört Sie die Uniformität, diese Art Vergangenheits-Utopie mit all ihren historischen Implikationen?

Es gibt alle möglichen Architekten, und es gibt alle möglichen rückwärts gerichteten Ideen und eine rückwärtsgerichtete Anpassung der Architektur und des Modernismus. Aber ich bleibe dabei: Ich halte dies für eine andere Zeit. Das 21. Jahrhundert wird mit dieser Art Herrschaft nichts zu tun haben. Es wird um eine andere Einstellung zur Stadt gehen, und ich glaube, man muß viel offener und flexibler sein, wenn man eine völlig andere Beziehung zwischen Umweltfragen, Kultur und menschlichen Wünschen und Vorstellungen schaffen will. Die Architektur wird immer periodisch sein. Aber ganz allgemein bin ich überzeugt, daß wir in einer posttotalitären Zeit leben.

Für einen neuen Wettbewerb habe ich Vorschläge für ein großes Wohngebiet in Lichterfelde-Süd und für die Landsberger Allee eingereicht; dies sind sehr unterschiedliche, ökologisch orientierte, historisch begründete Pläne für Wohnungen, Büros, Erholungsflächen und Fabriken. Ich glaube, wir leben in einer neuen Zeit, und je eher man diese Idee der totalen Kontrolle und totalen Uniformität fallen läßt, desto besser wird man für das nächste Jahrhundert gerüstet sein, mit seinen gewaltigen Fragen der menschlichen Freiheit, Toleranz und Offenheit.

Eine neue Utopie nach dem Scheitern der modernen und postmodernen Utopien?

Martin Buber hat recht, wenn er sagt, eine Welt ohne Utopien sei es nicht wert, in ihr zu leben. Man muß eine Perspektive zum Besseren haben, aber ich glaube, wir sind von den pathologischen Utopievorstellungen geheilt, weil wir erkannt haben, daß wir bereits in Utopia leben. Man sollte einfach an eine Utopie glauben, die mehr als ein Rechteck in der Stadt einschließt und statt dessen auf die größeren Zusammenhänge dieser Welt schaut.s