Täglich grüßt der Schokoriegel

Reality bytes im Berliner Staatstheater: „Shoppen & Ficken“ in der Baracke, „Ein Monat in Dachau“ und „keiner weiß mehr 2 oder martin kippenberger ist nicht tot“ im Prater – Thomas Ostermeier und Armin Petras zeigen, was zwei verschiedene Ansätze sind  ■ Von Petra Kohse

Sie sind nackt, sie schwitzen, und sie stehen dir direkt gegenüber. Wenn sie sich anziehen, tragen sie wahrscheinlich hippere Kleidung als du und sind essensmäßig noch schlimmer drauf, aber auch sie träumen unter der Stehlampe vom Glück, grölen mal eine „My Wy“-Variante, summen zu Vangelis oder hören Tocotronic. Alles ganz häßlich bunt da, Geld gibt es sowenig wie Arbeit, Sex hat mit Liebe nichts zu tun, und Blut fließt reichlich aus dem Arsch.

Reality bytes im jungen Berliner Staatstheater, und mancher weiß nicht, wo er die Augen lassen soll, wenn er aus Versehen in der ersten Reihe sitzt. Denn Platznumerierungen gibt es natürlich sowenig wie eine Qualitätsgarantie. Dafür aber zwei völlig unterschiedliche Ansätze von gleichermaßen harter Wirklichkeitsvermittlung an einem Wochenende. Armin Petras in der Volksbühne und Thomas Ostermeier in der Baracke: ein professioneller Außenseiter und ein zukünftiger Intendant.

Denn lange wird es nicht mehr dauern, bis der 29jährige Ostermeier ein Angebot bekommt, das er einfach nicht ausschlagen kann. Die Schaubühne, ist zu hören, hat bereits vorgesprochen, und auch andere Bühnen schielen nach dem Wunderknaben, der theatralisch so viel kann und dabei hip den eigenen Hosenboden hängen läßt. Erstklassiges Schauspielertheater mit einem gerüttelt Maß Jugendkultur und ganz ohne Welterklärungseifer – es handelt sich um ein singulär entwickeltes Modell des Regienachwuchses. Ernsthaft wie Loy oder Goerden, spielerisch wie Baier oder Bachmann, kümmert sich Ostermeier auch noch programmatisch um zeitgenössische Stücke, was will man mehr.

Na ja, vielleicht lohnendere Stücke. Denn in der Baracke des Deutschen Theater widmet er sich derzeit well-made plays, und die hat man immer schnell kapiert, auch wenn sie so „skandalträchtig“ sind wie „Shoppen & Ficken“, ein 1996 in London uraufgeführtes Drama des 31jährigen Mark Ravenhill (deutsch: Jakob Kraut).

Es geht um das, was der Titel sagt. Wobei gilt: Shoppen macht glücklich, Ficken bringt Geld. Die Geschichte eines bisexuellen Ex- Junkies, seines Freundes und seiner Freundin sowie eines minderjährigen Strichers. Freund und Freundin geraten in die Fänge eines bigotten Drogendealerbosses, Ex-Junkie und Stricher versuchen eine Beziehung. Einsam sind alle.

Im versifften Wohnzimmerambiente von Rufus Didwiszus entwickelt sich zwischen leeren Tetrapacks, Videohüllen und Klopapierrollen eine Soziales-Elend- Klamotte, bei der man viel Zeit hat, die Figurenskizzen zu studieren. Wie Bernd Stempel in der Rolle des Dealerbosses Brian drohend vom „König der Löwen“ erzählt, als handle es sich um eine verfilmte Version des „Wachturms“.

Wie Jule Böwe als Lulu charmant kurzsichtig die Augen zusammenkneift und in einem monotonen Babyton vor sich hinquakt, wenn sie nicht gerade heiser in ein Mikro singt (nett) oder Robbie (Bruno Cathomas) mit Fertiggerichten bekocht. Und wie sich Thomas Bading als fahrig-weicher Ex- Junkie Mark in Garys (André Szymanski) Stricher-Sehnsucht nach Big Hard Papa hineinarbeitet. So reicht jeder der Sucht des anderen die Hand, ein sog. Teufelskreis.

Mehr als im allgemeinsten Sinne zu interessieren, beginnt das Ganze allerdings erst am Ende, wenn Robbie und Lulu, um sich ein paar Pfund zu verdienen, eine Psychonummer mit Gary machen und ihn spielerisch dazu treiben, ganz wirklich darum zu flehen, ein Messer in den Arsch zu kriegen. Beklemmend daran ist aber vor allem, daß alle im Publikum plötzlich in so einem zoologischen Sinne betroffen wirken. Exoten-Horror Picture Show. Es bleibt eine fremde Geschichte. Wobei – was weiß ich! Klar und ein schönes Bild ist allerdings wieder, wenn dann noch zu Vangelis' „1492“-Musik das Evangelium des Kapitalismus buchstabiert wird: Geld ist Zivilisation und Zivilisation ist Geld...

Eine Produktion, die nur eines zu denken gibt: Wie kommt es, daß Lulu in der fünften Szene von den zu vielen Schokoriegeln an einer Tankstelle erzählt, und die Figur SIE in der fünften Szene von Fritz Katers Stück „keiner weiß mehr 2 oder martin kippenberger ist nicht tot“ auch!? „...daß ich mich nicht entscheiden kann das machen die mit absicht.“ Und täglich grüßte der Schokoriegel. Hat Kater, der der Leibautor von Armin Petras ist und mit ihm zusammen in einer Haut vermutet werden darf, von Mark Ravenhill abgeschrieben? Oder beziehen sich beide auf einen Film, den ich entweder nicht gesehen oder schon wieder vergessen habe? Oder ist F. Kater auch M. Ravenhill, oder anders gefragt: Wer ist Armin Petras?

Armin Petras ist 33 Jahre alt, Oberspielleiter in Nordhausen und in sonstigen Theatern dieser Republik vor allem auf Studiobühnen unterwegs. Denn auch wenn er ähnlich wie Ostermeier viel zeitgenössische Dramatik inszeniert, tut er das nicht staatstheaterkompatibel. Ihn interessiert nicht die Heutigkeit der Geschichten, sondern er verwendet Jetztsprache dazu, seine eigene Geschichte zu erzählen. Regietheater also, wobei Petras nicht von Konzepten, sondern von Menschen handelt.

Ein Doppelprojekt hatte im ehemaligen „Kreiskulturhaus“ Prater am Freitag Premiere: „Ein Monat in Dachau“ von Vladimir Sorokin und das Katersche Kippenberger-Stück, das nur sehr indirekt von dem 1997 gestorbenen Künstler handelt. Aber einen „Martin“ gibt es schon. Und wenn er schon nicht säuft, kokst er doch in größerem Stile und führt eine Art Popexistenz. Unterwegs (Urlaub oder was) mit seiner schwangeren Freundin und manchmal zu Besuch bei dem Alt-68er-Onkel Philoktet. Große und kleine Träume vom Glück und ziemlich viel Gosse, live in die Aktion reinerzählt von Martin. Eine Art theatrales Road Movie, mit Liebe, Nichtmehrliebe, Arbeit und keine Arbeit, Archie und Conehead.

Zuvor aber gibt es den Sorokin. Zur Praterbühne hat Peter Schubert zwei Drittel des Zuschauerraumes mit vereinnahmt und das Publikum hinter grobem Maschendraht auf dem letzten Drittel zusammengepfercht. Rechteckweise ist Kohlegries wie Eisenbahnschwellen angehäuft, gepreßter Autoschrott liegt als eine Reihe von Loren daneben, Alusäulen vor Hakenkreuzflaggen sehen aus wie Schornsteine. Dachau, Reise nach Dachau, des Sozrealisten 1990er Reise dorthin, und der Aufenthalt in 25 Zellen. Warum Petras dieses Stück inszeniert, erfährt man nicht so richtig. Der Text ist fragmentiert, und wer ihn nicht kennt, sieht nur, daß Menschen Dinge tun: einer schwebt im Dirndl herum, ein anderer quält sich entsetzlich. Schön ist die Ebene des reinen Spiels, die die Darsteller irgendwann erreichen, des Walzertanzens und Übereinanderrollen, das dann plötzlich durch ein langes Schweigen aller kontrastiert wird. Zwei Nackte onanieren an das Gitter gedrängt, dann sprintet Carolin Mylord im KZ-Hemd über denm Zaun, als wollte sie fliehen.

Tatsächlich aber sucht sie Schuhe, schwarze Lackstiefel für Ballerinen, in die sie ihre Füße einfüllt, bevor sie sich bis auf einen Gummislip auszieht, sich auf der Publikumsseite in halber Kreuzigungspose an den Draht hängt und ganz ruhig einen Text über die verlorene Unschuld spricht. „Warum, o Herr“, „erbarme dich“ – nicht „des kopfes“ wie es bei Sorokin heißt, sondern „unseres Fleisches“: eine Umdeutung, die die Totalität des Textes mit dem fragmentarisch Menschlichen beantwortet.

Nach der Pause dann das Natural-Born-Kater-Stück, durch ein Ensemble von Stehlampen in der verwüsteten Bühne als Home-Play konkretisiert. Milan Peschel und Christina Große als zwei, die sich weder fassen noch lassen können. Ziemlich lustig, wie Michael Klobe auf einem mit rosa Lack bezogenen Krankenbett in der Rauschebart-Maske des jüngeren Thomas Krüger im lilagrundigen Rundstrickpulli den Philoktet spielt: „Ho, Ho, Ho Chi Minh“.

Konservendosen werden gegen das Gitter geworfen, und Guido Lambrecht spielt eine Figur namens „Hyäne Leopard“: die verdrängten Triebe. Er ist es auch, der SIE, wenn sie später nackt auf einem richtigen Eisblock liegt, mit den Umschlägen von Rechnungen zudeckt und diese, noch später, verbrennt. Soviel Ignoranz muß sein, und ohnehin geht es die ganze Zeit darum, wie solche mit Lebensdrang im Leibe verhungern.

Diese Inszenierung macht Spaß. Auch wenn die Darsteller teilweise schwach sind und manches wirkt wie eine Skizze. Aber eine Stimmung wird gesucht, die Sprache ist echt und gibt im Scheitern viel mehr als britische Konfektionsdramatik. So steht (Kostüme: Tabea Braun) „Save the dolphins“ auf Milan Pechsels T-Shirt, und tatsächlich könnte, wer seiner schwangeren Frau in den Magen haut, ein engagierter Tierfreund sein. Geshoppt wird übrigens nicht, und natürlich ist Martin Kippenberger am Ende tot – vielleicht ist es das, was die Sache so lebenswirklich macht.