■ Algerien: Den Schlüssel zur Lösung der blutigen Krise halten die regierenden Militärs in der Hand. Doch sie wollen ihre Macht nicht teilen
: Die verselbständigte Gewalt

„Algier hat oft angenehme Frühlingstage, und so war es auch an jenem Vormittag des Jahres 1961. Ich war der einzige Kunde in einem Friseurladen in der Nähe der Kasbah, der Altstadt von Algier. Wie die Mehrheit seiner Zunftkollegen in der Welt war auch dieser Friseurmeister sehr gesprächig. Durch den Spiegel ließ sich die Straße hinter uns sehr gut beobachten. Plötzlich war die Ruhe vorbei, wir sahen, wie ein junger Mann auf der anderen Seite der Straße von einem etwa gleichaltrigen Mann aus nächster Nähe erschossen wurde. Ohne sein Gespräch zu unterbrechen, hantierte der Meister weiter mit Kamm und Schere und drehte zugleich meinen Stuhl zur Seite, damit ich die Szene auf der Straße nicht mehr sehe.“

Das klingt wie eine Filmszene, ist aber eine wahre Geschichte, die mir ein westlicher Diplomat erzählte, der während des Unabhängigkeitskrieges vor 35 Jahren in Algerien diente. Heute erreichen uns tagtäglich via Bildschirm aus Algerien Grausamkeiten, die fast irreal erscheinen. Und verblüffend sind die Parallelen zwischen den Gewaltorgien von heute und gestern. Denn viele FLN-Partisanen gingen gegen die französische Kolonialmacht oft mit derselben Brutalität vor, wie die Mörder von heute.

In dem achtjährigen Unabhängigkeitskrieg wurden unzähligen Zivilisten die Bäuche aufgeschlitzt und die Kehle durchgeschnitten, weil man sie als Kollaborateure der Kolonialisten verdächtigte. Und die hochgerüstete französische Zentralregierung setzte ihrerseits nicht nur Flugzeuge und Panzer ein, sondern auch auf die Folter – genauso wie heute der algerische Geheimdienst.

Nicht nur die Form der Gewalt, sondern auch ihre ideologische Rechtfertigung hat eine Kontinuität. Die FLN kämpfte nicht nur im Namen der Unabhängigkeit, sondern auch für den Islam. Der Islam müsse sich über die Religion hinaus auch in der Kultur und dem nationalen Charakter äußern, hieß es auf dem Siegerkongreß der FLN 1962 in Tripoli. Der Islam wurde Staatsreligion. Zielstrebig wurde die Arabisierung vorangetrieben, nicht nur um die Spuren der 130jährigen Herrschaft Frankreichs zu beseitigen, sondern weil Gott arabisch spricht. Selbst das Familienrecht wurde islamisch. Verdrängt wurde dabei, daß etwa 30 Prozent der Algerier Berber sind.

Die FLN hatte von Anfang an kein Interesse an einem echten Laizismus und einer Bürgergesellschaft. Diese Einheitspartei mit ihrer gemischten Ideologie aus Islam und Sozialismus beheimatete eher Islamisten als Demokraten. Bezeichnenderweise war Abbassi Madani, der inzwischen arrestierte FIS-Führer, einst selbst ein Funktionär der FLN.

Heute sind zwar die Rollen vertauscht, aber die Fronten sind unverrückbar wie ehedem: Die islamische Heilsfront (FIS) sowie die bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) beschimpfen die Regierungsmacht als „Partei Frankreichs“ – Hesbe Franse –, während sich die Zentralregierung als Anwalt der Modernität ausgibt.

Algerien ist ein stolzes Land, und dieser Stolz wurzelt in dem Unabhängigkeitskrieg, der offiziell seit dreißig Jahren von allen politischen Strömungen des Landes mystifiziert wird. Dieser Krieg sollte nach offizieller Lesart die nationale Identität stiften. Kein Wunder, daß jeder geschichtsbewußte Algerier sich auf diesen Krieg beruft, wenn er beispielsweise sein Land mit den Nachbarn – Marokko und Tunesien – vergleicht. Ihre Unabhängigkeit kommt ihm „unvollkommen“ und „halbherzig“ vor, weil sie durch Verhandlungen und Kompromisse erreicht wurde. Auch die Periode nach der Unabhängigkeit nährte diesen fragwürdigen Stolz: Algerien war die „sozialistische Republik“, die auf dem internationalen Parkett als Vermittler vieler internationaler Konflikte erfolgreich agierte, während die beiden Nachbarländer fest im „westlich-imperialistischen Lager“ verharrten.

Mit dem Ende der sozialistischen Ära verblaßte aber die Geschichte des heroischen Kampfes. Die algerische Realität lieferte wenig Grund zum Stolz, die gewaltsame Identitätskrise wiederholte sich, wie einst unter der Kolonialherrschaft. Einen offener Diskurs der Intellektuellen über diese Krise konnten die Militärs nicht dulden. Und als sich der Zusammenbruch der Einheitspartei Ende der 80er abzeichnete, hatte die Nomenklatura keine Skrupel, zunächst mit islamistischen Gruppen zu paktieren.

Doch diesmal hatten sich die Militärs verrechnet – sie wurden die Geister, mit denen sie gekungelt hatten, nicht mehr los, also putschte die Armee gegen ihren einstigen Verbündeten.

Viele Eurozentristen mögen behaupten, Algerien habe diese Militärregierung verdient, weil das Land für die Demokratie nicht reif sei. Doch man vergißt, wie viele Demokraten seit über 35 Jahren sowohl von den Islamisten als auch von den Militärs getötet, ins Ausland oder ins innere Exil vertrieben wurden.

Zweifellos ist die bürgerliche Opposition in Algerien gespalten – doch unter dem Druck der Verhältnisse schaffte sie es, einschließlich der FIS, vor vier Jahren in der sogenannten Plattform von Rom gemeinsam für eine Normalisierung des Landes einzutreten. Doch die Initiative scheiterte – die Militärs wollten und wollen allein bestimmen, wohin die Reise geht. So ist die Armeeführung, die sich heute gern als Bollwerk gegen die Barbarei der Islamisten präsentiert, die wahre Verhinderin einer Demokratisierung. Im Maghreb hört man oft ein Bonmot, das dies auf den Punkt bringt: „Jeder Staat hat eine Armee, aber die algerische Armee hält sich einen Staat.“

Die Spekulation, ob neben islamistischen Mörderbanden und normalen Kriminellen auch die staatlichen Todesschwadrone an den jüngsten Barbarei beteiligt sind, wird sich nie vollständig aufklären. Wer mit welchen Motiven oder Ideologien Zivilisten abschlachtet, darüber rätseln auch viele Algerier. Die Gewalt scheint sich verselbständigt zu haben.

Die EU-Troika wird mit Sicherheit mit einem Ergebnis aus Algier zurückkommen: Die Armee ist in der Lage, wie bisher die Sicherheit zu garantieren, wohlgemerkt die der Erdöl- und Gasleitungen. Der Terror gegen Zivilisten wird leider weitergehen, weil nur in einer Atmospähre der Ungewissheit und Angst die Banden aus dem Untergrund agieren können. Eine offene Gesellschaft ist Gift für die Islamisten. Die Offenheit muß aber gewollt sein. Mit anderen Worten: Die Machthaber müßten bereit sein, ihre Macht tatsächlich zu teilen. Aber das ist nicht die Tradition der algerischen Nomenklatura. Ali Sadrzadeh