Der Feind zu Hause

Frauen als Opfer und Vollstreckerinnen des Patriarchats: Die algerische Autorin Assia Djebar erzählt von der Schwierigkeit, verlorene Geschichte wiederzuentdecken  ■ Von Sabine Kebir

Auf dem Umschlag ist ein Gemälde von John Singer Sargent aus dem Jahre 1880 zu sehen. Es zeigt eine aufrecht stehende Muslima, die – wohl zu magischen Zwecken – ihren Schleier über einem Kanoun, einem Holzkohleofen, lüftet. Die Geschichte beginnt in einer zeitlos wirkenden Szene in einem maurischen Frauenbad, und so meinte ich, den Anfang eines historischen Romans zu lesen. Eine Frau badet zusammen mit ihrer Schwiegermutter und erlebt, wie eine andere, von allen hoch respektierte Frau die Bitte abschlägt, noch etwas zu bleiben: „Heute kann ich unmöglich länger bleiben. Der Feind ist zu Hause...“ Die Schwiegermutter versucht das Entsetzen der jungen Frau durch Erklärungen zu dämpfen: „Der Feind ... damit hat sie ihren Mann gemeint!“ – „Ihr Mann ist der Feind? Aber so unglücklich scheint sie doch gar nicht zu sein!“ – „... Der ,Feind‘, das sagt man halt so! Ich habe es doch schon gesagt: So reden die Frauen (hier) seit langem, wenn sie unter sich sind...“

Die dialektale Drastik der Frauensprache einer Kleinstadt erweist sich in den Augen der Schwiegertochter bald als Realität. Auch ihr Mann wird „der Feind“. Sie liebt ihn nicht mehr, hat ihn aber bislang noch als ganz undramatisch als „Freund“ empfunden. Plötzlich, ganz unerwartet, erwacht in ihr die Leidenschaft zu einem anderen, geheimnisvollen jungen Mann.

Ich war zunächst enttäuscht, als auf Seite 26 die Atmosphäre eines außerordentlich waghalsigen historischen Romans zerstört wird: Die Heldin nimmt sich ein Taxi, um den jungen Mann zu besuchen, der am Strand von Algier wohnt. Die Enttäuschung ist nur kurz, denn die Geschichte eines Begehrens, das sich selbst die Erfüllung verweigert, wäre banal, wenn man sie in der Vergangenheit erzählte. Was aber bringt eine 37jährige moderne Frau in Algier heute dazu, ihre Leidenschaft wie ein 13jähriger Backfisch zu leben und mit dem Geliebten nur stundenlange Telefongespräche in einem Hochhaus zu führen, in dem beide arbeiten? Weil der Leser das bis zum Schluß nicht glauben kann, ist die Sache ungeheuer spannend. Der selbst verordnete Entzug gelingt indes nur halb. Der Körper der Heldin verweigert sich schließlich dem ungeliebten Gatten, der sich daraufhin endgültig als „Feind“ benimmt. Gleichzeitig mit der ungelebten Liebe endet also auch die Ehe. Die Heldin wechselt das Land, kann dann endlich auch Beziehungen zu anderen Männern eingehen. Als sie eines Tages den „Geliebten“ wiedertrifft, beschleicht sie das eigenartige Gefühl, ihn „zur Welt gebracht zu haben“. Wenigstens kann sie ihn nun endlich – mütterlich – umarmen.

Und es beginnt eine Selbstanalyse, deren Ausgangspunkt die Erkenntnis ist, daß die warm bleibende Erinnerung an den „Geliebten“ sich dort niederließ, „wo ursprünglich etwas frei geblieben war, an jenem Ort, den die Frauen der Familie in meinem Umkreis geplündert hatten, seit meiner Kindheit und bis zu meiner Heiratsfähigkeit, als sich die ersten wankenden Schritte meiner Freiheit abzeichneten“.

Frauen, die gleichzeitig Opfer und Vollstreckerinnen des Patriarchats sind – das ist das Thema aller Bücher von Assia Djebar, die stets persönliche Erinnerung, Fiktion und eine Reihe historischer Dokumente auf ganz eigene Weise miteinander kombiniert. Als Schriftstellerin eines Landes, dem die Kolonialmacht sein Geschichtsbewußtsein weitgehend „gestohlen“ hat, kennt sie keine postmoderne Sucht des gewaltsamen Abschneidens der Vergangenheit. Sie weiß, daß sie nur zu sich selbst finden kann, indem sie die verlorene Geschichte Schritt für Schritt erforscht. Die besteht zunächst aus der mündlich überlieferten Geschichte der „Frauen“, die sich nicht nur unterwarfen, sondern auch auflehnten und zumindest ein Stück weit befreiten. Ihre eigene Mutter zum Beispiel legte den Schleier ab, als sie zum ersten Mal nach Frankreich fuhr, um den dort eingekerkerten Sohn zu besuchen. Und die Unabhängigkeit des Landes gab ihr den Mut, die Fahrprüfung abzulegen.

Während sich die westliche Literatur die Selbstbefreiung nur als Auflehnung eines geschichtslosen Ich vorstellt, wissen die ehemals Kolonisierten genau, daß sie das Gewicht jahrhundertelanger Niederlagen und Verdunkelungen und die Verleugnung der eigenen kulturellen Wurzeln aufzuarbeiten haben: „Ich, eine arabische Frau, die das klassische Arabisch nur fehlerhaft schreibt, liebe und leide im Dialekt meiner Mutter, wissend, daß ich den tiefen Gesang finden muß, der in der Kehle der Meinen erwürgt wurde.“

Der „Dialekt“ der Mutter war eine maghreb-arabische Lokalsprache, die freilich erst seit wenigen Generationen das Berberische ersetzt hatte – die in vielen Bergregionen, aber auch in Teilen der Sahara bis heute erhalten gebliebene Ursprache Nordafrikas. Die Tatsache, daß der „Geliebte“ Berber war, wird zum Anlaß, über historische Dokumente und familiäre Erinnerungen das ursprüngliche Berbertum aller Algerier aufzudecken – auch der arabophonen Mehrheiten, die sich irrtümlicherweise oft für Abkömmlinge der arabischen Invasoren halten, die im 8. Jahrhundert Nordafrika islamisierten. Nicht nur die Araber, sondern auch Türken und Franzosen haben dafür gesorgt, daß der Gegensatz zwischen den beiden Sprachfamilien bis heute virulent ist und sich leicht in einen „ethnischen“ Konflikt verwandeln ließe.

Diese für Algerien hochaktuelle Auseinandersetzung mag das westliche Publikum weniger berühren als die spannende Liebesgeschichte. Das Verhältnis zur Geschichte signalisiert indes die tiefe Spaltung zwischen den kulturellen Hemisphären der einstweiligen Sieger der Geschichte und denjenigen, die sich nicht endgültig als besiegt erklären wollen.

Assia Djebar: „Weit ist mein Gefängnis“. Roman. Aus dem Französischen von Hans Thill. Unionsverlag, Zürich 1997, 378 S., 39 DM