Repression ist kein Rezept

■ Nach dem Freitod eines Psychiaters der Karl-Bonhoeffer-Klinik erhebt Ärztekammerpräsident Huber Vorwürfe gegen den Senat: Statt mehr Repression gegen Gefangene seien Supervision und Fortbildung für ärztliche The

Nach dem Freitod des 45jährigen Psychiatrie-Chefarztes Peter Noerres hat der Präsident der Ärztekammer, Ellis Huber, schwere Vorwürfe gegen den Senat erhoben: Die ärztlichen Therapeuten von im Maßregelvollzug (Gerichtspsychiatrie) untergebrachten Straftätern würden immer mehr zu Hilfsorganen der Polizei degradiert. „Ich kann sehr gut nachempfinden“, sagte Huber, „daß die kaum zu vereinbarenden Interessen von Therapie und Schutz der Öffentlichkeit einen Menschen zerreißen können.“ Huber forderte nun, Supervision und Fortbildung für die ärztlichen Therapeuten anzubieten.

Der für drogen- und alkoholabhängige Straftäter im Krankenhaus der Gerichtspsychiatrie in Reinickendorf, der Karl-Bonhoeffer-Klinik, zuständige Noerres hatte sich am 12. Januar in seiner Kreuzberger Wohnung erhängt. In Abschiedsbriefen an seine Kollegen sprach der alleinstehende Mann von einem als persönlich empfundenen Versagen, wenn einzelne Patienten ihren Ausgang und Urlaub aus der Klinik zu neuen Gewalttaten mißbrauchten.

Wie der Tagesspiegel gestern berichtete, hatte Noerres einen Tag vor seinem Tod von der Polizei erfahren, daß einer seiner Patienten bei einem Freigang ein Kapitalverbrechen begangen haben soll. Der Patient wurde inzwischen von der Gerichtspsychiatrie in die Untersuchungshaft verlegt.

Noerres leitete seit sechs Jahren eine der drei Abteilungen der Gerichtspsychiatrie mit 320 Plätzen für per Gerichtsurteil eingewiesene Straftäter. Der Chefarzt galt als warmherziger, liebenswürdiger Mensch, der sowohl bei Kollegen wie Patienten sehr beliebt war. „Wir haben ihn alle sehr geschätzt“, äußerte sich der ärztliche Leiter, Ulrich Giese, gegenüber der taz sehr betroffen über den Verlust. „Er war sehr sensibel.“ Der Präsident der Ärztekammer, Ellis Huber, kannte Noerres zwar nicht persönlich, weiß aber: „Die sensiblen Ärzte sind die besten.“ Aus Noerres Abschiedsbriefen geht hervor, wie sehr er unter dem Druck der Spannung zwischen Therapie, dem Risiko der Fehlprognose, dem Schutz der Öffentlichkeit und dem politischen Druck auf die Gerichtspsychiatrie gelitten hat. Er vermöge den Menschen in der U-Bahn nicht mehr in die Augen zu sehen, wenn Patienten rückfällig würden, indem sie zum Beispiel töteten. Schwer getroffen hat den Psychiater auch der Fall seines ehemaligen Patienten Thomas Rung, der im März 1995 eine Mordserie mit sieben Opfern gestanden hatte.

Aber auch zu den von Gesundheitsstaatssekretär Detlef Orwat (CDU) verschärften Sicherheitsregeln in der Gerichtspsychiatrie äußert sich Noerres in seinen letzten Briefen sehr kritisch. Der Entwurf eines neuen Maßregelvollzugsgesetzes soll demnächst im Senat beraten werden. Geplant sind unter anderem Einschränkungen des Besuchsrechts sowie Post- und Telefonkontrollen. Der gesundheitspolitische Sprecher von Bündnis 90/Grüne, Bernd Köppl, befürchtet „das Schlimmste“ und kündigte für den Fall, daß die Grundrechte der Patienten außer Kraft gesetzt werden, eine Klage beim Verfassungsgericht an. Es gebe zwar kein Rezept, doch Repression führe auf jeden Fall zu Gegenrepression. Auch Ellis Huber warnt, eine rationale Gefahrenbewertung finde nicht mehr statt. Plutonia Plarre