Zwischen Stillstand und Rückschritt

■ Die Union fürchtet im Wahljahr mehr noch als den Unmut konservativer Katholiken den Unmut der Frauen

Als der CDU-Bundesparteitag im letzten Oktober Helmut Kohl als Kanzlerkandidaten bestätigte, sprach dieser von einer Richtungswahl zwischen „Fortschritt oder Stillstand, Aufbruch oder Abstieg“. Er kündigte für die kommenden Monate einen „Lagerwahlkampf“ an.

Mittlerweile formieren sich die Lager, allerdings verlaufen sie quer zu der von Kohl gedachten Scheidelinie, mittlerweile droht die Richtungsentscheidung, allerdings eine zwischen Stillstand und Rückschritt. Das erwartete Papstwort zum ungeborenen Leben hat justament zum Beginn des Wahljahres eine breite parteiübergreifende Front von Politikern mobilisiert, die an der bestehenden Regelung festhalten wollen. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) fordert die Kirche auf, die Beratungspraxis, durch die schon „Tausende Menschenleben gerettet“ worden seien, fortzusetzen. Wolfgang Thierse schlägt vor, Gruppen und Gemeinden sollten die Trägerschaften übernehmen. Süssmuth will gegebenenfalls die staatlichen Fördermittel streichen. Dem Katholiken Thierse „geht es nicht darum, die Kirche zu spalten“, der stellvertretende SPD- Vorsitzende wird jedoch mit leiser Genugtuung die Verwerfung betrachten, die das Dekret aus Rom in der Union hervorruft. Dieses könne zwei lebenswichtige Prozent kosten, heißt es aus der CSU- Spitze zum aktuellen Kirchenkampf. Die CSU wolle den Bischöfen helfen, trotz des Papstbriefes ihre Beratungsarbeit fortzuführen. Noch bedeutsamer als diese Botschaft ist der Mund, aus dem sie kommt. Der stellvertretende Generalsekretär Joachim Herrmann ist ein Mann Edmund Stoibers, der in Glaubensfragen weitaus rigider agiert als der Parteivorsitzende Theo Waigel. Gegen Rom stehen selbst diese beiden feindlichen Brüder geschlossen. Kohl und Waigel sollen sich schon vor längerem darauf geeinigt haben, den Weisungen des Vatikan keine Folge zu leisten. Jeder Anschein der Uneindeutigkeit soll peinlichst vermieden werden, denn noch mehr als den Unwillen der konservativen Katholiken fürchtet man im Wahljahr den Unmut der Frauen. An sie richtete sich denn auch die „persönliche Erklärung“, mit der Kohl vorletzte Woche im Kabinett den Vorstoß seiner Familienministerin Claudia Nolte abkanzelte. Diese hatte die Beratung erneut vors Bundesverfassungsgericht bringen wollen. Der Bundeskanzler hat seine Motive bereits im letzten Frühjahr in einem Brief an den Vorsitzenden der Glaubenskongregation, Ratzinger, in erfrischender Klarheit formuliert. Ein Ausstieg aus der Beratung wäre Wasser auf die Mühlen von Rot- Grün, und das könne die Kirche doch nicht wollen. Dieter Rulff