Mehr Dekor! Mehr Kitsch!! Mehr Emotivität!!!

Früher wollte Robert Schneider Papst werden, dann schrieb er mit „Schlafes Bruder“ einen Bestseller. Nun wurde er für seinen Nachfolgeroman „Die Luftgängerin“ schwer verrissen, und auch bei einer Lesung in Berlin kam seine Ironie eher uneigentlich daher  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Berlin, Mittwoch abend. In der S-Bahn zum Wannsee haben alle ein Buch in der Hand und lesen. Auf manchen Büchern steht Robert Schneider drauf, weil der Vorarlberger Erfolgsautor, dessen Erstlingswerk „Schlafes Bruder“ in 14 Sprachen übersetzt und im deutschsprachigen Raum allein über eine Million Mal verkauft wurde, später im „Literarischen Colloqium Berlin“ aus seinem neuen Buch vorlesen wollte. Ein gesellschaftliches Ereignis! Eine internationale Premiere! Um so interessanter, als „Die Luftgängerin“ von der sogenannten Kritik der sogenannten Leitmedien brutal verrissen worden war.

Der Veranstaltungsraum ist rappelvoll. Auf dem Podium sitzen Hellmuth Karasek, mittlerweile Herausgeber der Berliner Tanten- und Westdozentenzeitung Tagesspiegel, Verena Auffermann, Literaturkritikerin der SZ, und Hajo Steinert, der Deutschlandfunkmoderator. Alle warten weintrinkend auf den Mitdiskutanten Jürgen Busche (früher: Literarisches-Quartett, Wochenpost). Der hatte sich wohl auf den Tagesspiegel verlassen. Dort stand nämlich, die auf 19h angesetzte Lesung & Diskussion würde erst um 20h beginnen. Dafür könne er auch nichts, meinte Karasek. So wartete man. Und wartete. Nach einer Viertelstunde sagte Steinert, niemand solle lachen, wenn er jetzt bei der Anmoderation (die Veranstaltung wurde für den Deutschlandfunk aufgezeichnet) nicht nur die Anwesenden, sondern auch Jürgen Busche vorstellen würde, der ja sicher gleich käme, was dann doch nicht geschah. („Betrunken oder überfahren worden vermutlich“, meinte jemand, was ungehörig ist).

So sprach man überbrückungsweise über das „Literarische Quartett“ und dies und das: „Ich bin ein absoluter Fan des Literarischen Quartetts, eine Riesengaudi“, so Schneider, sehr umarmungslüstern. Zwischendurch lachte jemand wie ein Ziegenbock. „Der Silvesterklang ist uns noch in den Ohren, und wir sind stolz, auch bei uns einen ,Kracher‘ zu haben“, anmoderierte Hajo Steinert, unterhielt sich danach ein wenig mit dem Dichter, um ihn menschlich nahezubringen. Der Dichter erzählte, daß er eine „musikalische Seele“ habe und früher mal Papst werden wollte und immer „hoffnungslos allein“ gewesen sei. Auch habe Literatur nicht in erster Linie mit anderen Büchern, sondern vor allem mit der „Autorität des Lebens“ zu tun. Ob er eine Million Mark für sein neues Buch bekommen habe, wollte der „Verteidiger der Provinz“ nicht sagen. Ungerecht fanden alle, daß der Spiegel dem Autor vorgeworfen hatte, darauf zu bestehen, bei Lesereisen stets in Fünfsternehotels zu wohnen. Zumal Spiegel-Mitarbeiter ja auch stets in leckeren Hotels wohnen und erster Klasse reisen. „Zu verdanken ist dieses Buch einer Frau.“ Gegen Zynismus und Lebensangst tritt es an und für „authentische Gefühle“. Während Leser authentische Gefühle gut finden, ist man sich auf dem Podium vornehm einig, daß man nicht wisse, was mit „authentischen Gefühlen“ gemeint ist. Weil „authentische Gefühle“ peinlich sind. Was falsch ist: „Sei doch nicht so kleinlich/Liebe ist nicht peinlich“, möchte man mit Helge Schneider den Literaturkritikern zurufen, mögen Peter, Werner und Jürgen Schneider auch anderer Ansicht sein!

„Die Luftgängerin“, eine action- und personenreiche Kleinstadtsaga in schweizerischer Bergwelt, spielt in der Gegenwart. Alles beginnt in den späten Sechzigern um in der Jetztzeit zu enden. Ein allwissender Erzähler, dessen altklug moralisierende Lehrerhaftigkeiten einem zuweilen auf den Geist geht, berichtet in einer recht gestelzt und altertümlich daherkommenden Sprache von sozusagen unbedingten Menschen: Ambros Bauermeister ist vornehm- anarchistisch veranlagt und mag kein Geld berühren. Maudi, die Tochter, gezeugt „in so unglaublicher Konstellation von Emotivität und Hingabe, daß sich später bisweilen in diesem Menschen die Zeit selbst aufhob“, ist „der letzte Herzmensch von Jacobsroth“, eine „Luftgängerin“, nur dem eigenen Herzen verpflichtet, ein androgyner Engel mit ganz erstaunlichen Gaben. Tiere fallen tot um in ihrer Gegenwart, verzweifelte Menschen sind glücklich, wenn sie von ihr angeblickt werden. Später macht sie Liebe mit lauter verworfenen Gestalten, ohne Geld dafür zu verlangen, weil Heilige und Hure zusammengehören. Boje Birke, ein anderer Engel in Gestalt eines Penners, liebt die Frauen sehr, hat aber noch nie eine „erkannt“. Vernarrt ist der Trinker in eine Fernsehansagerin und veranstaltet viel übersinnlichen, durchaus sehr lustigen Schabernack, nachdem seine Favoritin vom Sender entlassen wurde, weil der dümmliche Sendechef sich eine andere Geliebte genommen hat – Michaela Pfandl, ein „Bratpfannengesicht“. Außerdem trachtet Birke Maudi nach dem Leben. Deshalb wird er von Harald, einem lieblosen Theologen und schlechtem Charakter zu Brei gefahren. Zur Strafe wird Harald später niedergestochen. Außerdem auch dabei: Rüdi, ein neonazistischer Soldat, der früher mal ein nach „Herointrips“ süchtiger Skinhead war.

In seiner Vorrede schreibt der eigentlichkeitsorientierte Autor: „Nicht länger die Hoffnungslosigkeit verehren, nicht länger die Wertlosigkeit aller Werte veranschlagen, nicht länger die Wahrheit um- und um- und um- und umwenden. Nicht mehr den Schild blankgeputzter Worte vor das ohnehin ausgeleerte Herz heben. [...] Wieder einem Engel entgegenfallen.“ Im trashigen Finale des Buches veranstaltet Rüdi mit einem gestohlenen Panzer ein Massaker, „denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“ (Rilke). Dazwischen gibt es zahllose verkitschte Passagen – so zwischen Rilke, Tschechow und Botho Strauß –, die man irgendwann aufgibt zu unterstreichen. Im mehrmals wortwörtlich wiederholten Schlüsselsatz heißt es: „Seine Augen waren auf sie gestürzt und hatten den Menschen auf einmal in seiner ganzen, seraphischen Erscheinung begriffen. Nichts Fremdes an ihm. Nichts Unbekanntes. Immer bei ihm gewesen. Bei ihm gewohnt. Ihn immer geliebt.“ (Später fallen sie „wie die Wolken des Himmels“ ineinander). Von der Kritik wurde der Roman, der drei Wochen nach seinem Erscheinen 80.000mal verkauft wurde, total verrissen: „wüstes Sprachgestümper“ (Löffler, Zeit), „das Desaster eines Unberatenen. Mag sein, auch das Drama eines Unbelehrbaren“ (Spiegel).

Eingedenk wohl auch der Kritik, zog Schneider – ein großartiger Vorleser – ganze Passagen seines Romans ins Parodistische. Der größte Teil des Publikums war begeistert. Wer das Buch zuvor gelesen hatte, war eher erstaunt. Die Kritiker, die er sehr verehre, seien eben unfähig, Ironie zu erkennen. Steinert, Karasek und Auffermann fanden das Werk trotzdem daneben, wobei erstere sensiblig betonten, daß sie das Buch nicht zu Ende hätten lesen können und ihm Passagen entgegenhielten, die beim besten Willen nicht ironisch verstanden werden können. Möglicherweise war es auch ironisch gemeint, als Schneider sagte, die Zusammenarbeit mit seiner Lektorin, die das Buch nicht gemocht habe, sei großartig gewesen. Irgendwie wirkt es jedenfalls boykottös, wenn das Engelchen Maudi, Jahrgang 1970, in den neunziger Jahren plötzlich als dreißigjährige Frau auftritt. Wie auch immer – großes Dennoch: Nach ein paar Seiten hatte ich es aufgegeben, besonders unmögliche Sätze zu unterstreichen. Dann störten die nicht mehr. Dann las ich das Buch in einem Stück und fand es spannend, gut gebaut, prima kitschverliebt, überdekoriert und klasse bunt wie das türkische Kreuzberger Szenelokal „1.000 Rote Rosen“; oder wie den trashig, emphatisch, überkandidelten Film eines durchgedrehten Regisseurs sozusagen. Am Ende der internationalen Premiere der „Luftgängerin“ sagte Hajo Steinert, es sei doch sicher eine ausgedachte Ente, daß Schneider beabsichtige, in seinem 100-Quadrat- Meter-Park jede seiner Romanfiguren mit einem Denkmal zu ehren. Das stimme durchaus, so der Dichter und er hätte bereits verschiedene Künstler mit der Verfertigung der Büsten beauftragt. Klasse! Wunderbar! Sprachlos, irgendwie peinlich berührt, schaut die Großkritik ins Leere. Eins zu null für den Dichter!

Robert Schneider: „Die Luftgängerin“. Roman. Blessing Verlag, München 1998, 350 S., 42,90 DM