■ Deutschland versucht Standort per Krankenstandsenkung zu sichern
: Rückgrat zeigen

Wer ist Simulant, wer krank? Diese Frage steht im Vordergrund, wenn deutsche Unternehmen und Gewerkschaften sich anschicken, den Krankenstand in den Betrieben zu senken. Geld, Kosten, Gewinnmaximierung, Standortsicherung heißen die Schlagwörter zur kollektiven Motivation. Die Statistik zeigt: Der Krankenstand ist so niedrig wie nie. Doch das ist auch ein Hinweis darauf, wie sehr wir am Rand des Erfolgs balancieren.

Betrieblich erbrachte Leistungen sagen nichts über das Ausmaß an Selbstverwirklichung aus. Angst vor dem Vorgesetzten, der Druck von strebsamen Kollegen – auch das sind Faktoren, die krank machen. Zwar werden die Programme zur Minderung des Krankenstandes gefeiert, ihre psychischen Auswirkungen aber werden tabuisiert. Mehr als 40 Prozent der Krankschreibungen gehen zu Lasten von Langzeiterkrankungen. Rückenbeschwerden nehmen den ersten Platz in der Diagnose ein. Kreuzschmerzen oder ein Bandscheibenvorfall sind Leiden von ausgeprägter Symbolkraft. Das Rückgrat gehört zum empfindlichsten Teil des menschlichen Körpers. Die Ursachen für degenerative Veränderung der Wirbelsäule sind Faktoren wie geringe Entscheidungs- und Gestaltungsräume, allgemeine Unzufriedenheit mit der Arbeit und mangelnder sozialer Rückhalt. Diese Ursachen, übrigens vom Volkswagen-Konzern erforscht, werfen ein grelles Licht auf die Wirklichkeit der Arbeitswelt. Insofern sind die Krankenzahlen von heute Abbilder von Herrschaftsverhältnissen.

Management und Gewerkschaften mögen sich durchaus auch aus humanitären Motiven um das Wohlergehen von Belegschaften sorgen, doch dieses Motiv wird bestenfalls am Rande sichtbar. Gesundheitsprogramme, die rein aus Kostenerwägungen durchgesetzt werden, müssen langfristig scheitern. Die Arbeitsbedingungen von morgen werden hohe Ansprüche an die Beschäftigten stellen. In den flachen Hierarchien von morgen werden autoritäre Vorgesetzte zu Hauptbelastungsfaktoren im Produktionsprozeß. Konflikte würden dann nicht mehr auf der Basis Vorgesetzter–Mitarbeiter ausgehandelt, sondern im Team. Erst wenn nicht mehr die Kosten, sondern der Mensch im Mittelpunkt der betrieblichen Gesundheitsfürsorge stünde, würde sich etwas in der Kultur der deutschen Unternehmen verändern. Allein an den Zahlen der Langzeiterkrankungen wegen Rückenbeschwerden ließe sich trefflich ablesen, wie fit die deutschen Unternehmen sind, die Zukunft zu packen. Annette Rogalla