Ein Drahtgestell mit lauter Rosen

Einar Schleef hat am Wiener Burgtheater Elfriede Jelineks „Sportstück“ uraufgeführt: eine sehr österreichische Arbeit eines sehr preußischen Preußen, zwischen Barock und „Straße der Sieger“, Fest und Kasteiung  ■ Von Petra Kohse

Man muß sich das so vorstellen: Nur die Flammen aus dem Inneren einer Halbkugel beleuchten die Bühne, ein hüfthohes Gefäß, glasig weiß wie eine riesige Opferschale. Im flackernden Halbdunkel sieht man mehr solcher Kugeln, in allen Größen und noch unzerteilt. Drumherum etwa zwei Dutzend Darsteller. In weißen Sporthosen oder feierlicher Nacktheit singen sie, ach was: erschallt aus ihnen ein Andachtsjodler, ein steirischer.

„Heute abend konnten Sie erleben, daß auch ein Preuße die österreichische Kultur lieben kann“, sagt der Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner Einar Schleef später zum Publikum, tief bewegt, weil Jubel und Beifall noch und noch nicht enden wollen. Wie wahr. Am Freitag hat Schleef am Wiener Burgtheater Elfriede Jelineks „Sportstück“ uraufgeführt, als Fest und Rausch, als Massenzeremonie und Zeremonie der Masse.

Das Flammenbild mit Jodler ist der Schluß der ersten Szene nach der zweiten Pause – da geht die Inszenierung schon in ihre sechste Stunde, und daß das Publikum das erleben darf, ist ein persönliches Geschenk des Intendanten im Wert von umgerechnet 8.000 Mark. 500 Schillinge nämlich verlangt die österreichische Gewerkschaft als Zulage für jeden technischen Mitarbeiter, der nach 23 Uhr noch fürs Theater tätig ist. Einar Schleef, das Schlitzohr, das geniale, hat das gewußt, und er hat es darauf ankommen lassen. Kurz vor 23 Uhr betritt er in seinem Smoking den Zuschauerraum, stoppt den Chor der Seeleute an der Rampe und geht Richtung Direktorenloge auf die Knie. Lieber guter Peyemann, mach, daß ich weiterspielen kann. Der Burgtheaterdirektor macht's, wie auch nicht, 1.500 Burgtheaterbesucher schauen ihn ja an. Natürlich hätte Schleef seine Inszenierung kürzen können, irgendwie. Damit man, um 18 Uhr anfangend, rechtzeitig fertig gewesen wäre. Aber das ist nicht im Sinne seiner Kunst: Er braucht es, daß sich ihm etwas in den Weg stellt, und sei es nur die Gewerkschaft. Obwohl gerade er ein Gelingen komponieren kann wie keiner, macht ihn der Kitzel des möglichen Scheiterns erst wirklich stark.

In der drittletzten Szene rollen Techniker im Dunkeln ein Bodentuch auf der Bühne aus. Plötzlich hört man den Regisseur protestieren, nein, so ginge das nicht, bitte Licht, was sei denn hier los. In Socken steht Schleef ganz hinten auf der Bühne, die Schuhe in der Hand, spricht plötzlich Jelinektext und kommt langsam nach vorne. Es ist der Schlußmonolog der Elfi Elektra, dem Alter ego der Autorin, den er stockend weniger rezitiert, als probiert und kommentiert: „Da fehlt ein Wort“, „Das ergibt keinen Sinn“ und: „Frau Jelinek, bitte helfen Sie mir doch. Kommen Sie hier her auf die Bühne, und Hand in Hand gehen wir durch Ihren Text.“

Das muß sich Christoph Schlingensief angucken und muß eigentlich jeder gesehen haben, wie sich hier einer ausliefert und zeigt, daß er lebt. Wie einer als Künstler seine archaisch strengen Formen zerschlägt und ein zitterndes Ich dahinter zeigt. Ein ehrliches dazu. Denn tatsächlich widerstrebt Jelineks Schlußmonolog Einar Schleefs Verständnis von Tragik im gleichen Maße wie die hysterisierte Maßlosigkeit des Textes insgesamt seiner Weltsicht entspricht. Wobei mit „Maßlosigkeit“ nicht die Tatsache gemeint ist, daß Jelinek 188 Seiten Text mahlstromartig über das Phänomen Sport kommen läßt. Jeder, der die österreichische Hauptstadt durchstreift bemerkt doch, daß hier alle unter 50 aussehen wie Skifahrer. Zumal wenn man auf der zur „Straße der Sieger“ gekürten Mariahilfer Straße flaniert, zwischen in Beton verewigten Fußabdrücken medaillenreicher Rodler oder Steptänzer. Der Sporthaß – in Österreich gehört er zum Überleben sicher dazu.

Jelinek aber wäre nicht Jelinek, wenn sie vom Sport nicht auf Mord, von Gruppe nicht auf Masse, von Siegern nicht auf Opfer käme. Wobei sie sich als Berufsmoralistin diesmal selbstironisch einbezieht. Und da der gleichförmig wortspielerisch bohrende Text auf einen Chor und einzelne verteilt ist und Positionen teilweise gegeneinandergesetzt sind, kommt das Ganze nicht nur als Anklage, sondern auch als Frage daher.

Sportler treten auf, Sportlermütter, ein Opfer, Frauen, der Chor, und Elfi Elektra, die Autorin. Ein kunstvoll komplexes Stimmengewirr, bei dem letztlich keiner gewinnt und keiner unterliegt, nur Elfi Elektra, die als Trägerin eines – vielleicht des letzten – Gewissens am Ende für den Mord an ihrem Vater zur Verantwortung gezogen werden will – was aber keinen interessiert. Strafe findet nicht statt, und wo kein Recht ist, ist auch kein Unrecht, alles ist gleich, so gleich und gleichmacherisch wie der Sport als „Organisation menschlicher Unmündigkeit, welche in siebzigtausend Personen gesammelt und dann über ein paar Millionen daheim vor den Bildschirmen ausgegossen wird“. Dem Gleichmacherischen nun gilt Einar Schleefs Wut seit langem. An dessen Totalität aber glaubt er zumindest als Künstler nicht. Daß auch der Abtrünnige eingemeindet und immer nur wieder Teil des Ganzen wäre – diesen letzten Pessimismus teilt er nicht. Vielmehr glaubt er daran, daß das Kollektiv einen Abtrünnigen, einen, der die gemeinsame Drogeneinnahme verweigert, daß das Kollektiv diesen ausstößt: die antike Konstellation, der Individuationsprozeß als Tragödie. So legt er es in seinem Buch „Droge Faust Parsifal“ dar, und so exemplifiziert es seine Wiener Lesart des Stückes über die Massendroge Sport.

Gegen den anders tendierenden Schlußmonolog protestiert Schleef in eigener Person, und auch sonst hat er die Figuren in diesem Sinne interpretiert: Statt die Sportler bis zum Schluß ein „Opfer“ treten zu lassen, das gerade durch diese Übergriffe am Reden gehalten wird, ist das Opfer schon nach dem ersten Sportbezweiflungstext fällig: Der nackte Darsteller (Martin Brambach) wird verprügelt, gefangen und in einen Käfig gesetzt. Seinen restlichen Text erhalten andere Figuren – durch Ausschluß des Verräters gereinigt, kann sich das Kollektiv der Feier seiner selbst auch in Ambivalenz ergeben. Wobei Schleef die Einebnung der Verhältnisse durch die Vergöttlichung des Profansten mit Zitaten der barocken Welt kontrastiert. Ob der Chor todeskünderisch in schwarzen Kapuzenkitteln auftritt, Frauen in opulentesten Reifröcken, Männer in seidenen Kniehosen und immer jemand auf schwindelndem Kothurn – alles ist Denkmal für Zeiten, da es ein Oben und ein Unten gab, Himmel und Hölle, und dazwischen den wollüstig fühlenden Körper statt des freudlos gestählten.

Die Ästhetik des Festes wie der Kasteiung bestimmen diese Arbeit, inhaltlich an Jelinek vorbeigehend, künstlerisch aber weit über sie hinausführend, denn Schleef gelingt auch die Synthese: Ausgerechnet im Drill macht er die barocke Setzung der Welt als Bühne und der Bühne als Welt erfahrbar. Wenn am Ende des Flammenjodlerbildes ein nackter Darsteller im Liegestütz keuchend Kleists Bericht von Penthesileas Tötung des Achill spricht oder mehr als 40 Darsteller mindestens 20 Minuten lang Text skandierend synchron die gleichen zehn Sportübungen ausführen – dann ist von Kampf und Erschöpfung nicht nur die Rede, sondern sind sie live zu erleben. Und sofort nach dem Marathontraining erheben sich zwei wieder vom Boden und singen in vollendeter Reinheit ein Duett aus „La Traviata“.

Massen- und Individualszenen, völlige Kontrolle und kontrollierte Lockerheit oder berückende Schönheit wechseln ab in gleichbleibend strenger, zuweilen minimalistischer Bildführung auf der mit weißen Leinwänden begrenzten Bühne, deren Portal mit Metallplatten monumental beschlagen ist.

Und zweimal wird im Hintergrund eine Fabrikhalle oder Werkstatt fahl sichtbar: hier wird der neue Mensch gefertigt. Im Opernhaften wird Trost gespendet und zugleich die Anklage geführt. Im Raunen des Chores, im gregorianischen Gesang oder einem Choral von Bach. Und vier Damen trippeln auf dem Kothurn herein, in kastenförmig abstrahierten Reifröcken, deren Drahtgestell mit nichts als Rosen übersät ist, während ein Mann vom weiblichen Retortenmodell „Claudia“ oder „Naomi“ schwärmt.

Es ist dies tatsächlich die sehr österreichische Arbeit eines sehr preußischen Preußen. Das real existierende Barock, das zwischen Stephansplatz und Burgring nicht nur baulich überlebt hat, kontert er mit der „Straße der Sieger“ und dem Heldenplatz. Auch die Rote Armee tritt auf, „Ein Schiff wird kommen“ wird gesummt, und überhaupt ist alles kraftvoll, geschmeidig und atemberaubend akkurat komponiert, mit einem unglaublichen Ensemble, das nur in den männlichen Individualparts Schwachstellen hat. Es ist manisch und verführerisch, stampfend und besänftigend, nervenzerreißend in einer unendlich scheinenden Pause oder der absurden Wiederkehr des Gleichen. So sehr, daß das Burgtheater, dessen höfisches So- Sein ein sehr alter Darsteller (Heinz Frölich), unterstützt von einer Vierergruppe Sportbuben, zu Beginn mit dem Eröffnungsprolog von 1888 ironisiert, daß dieses Burgtheater also dem Schleef-Ensemble wie dem Regisseur und der Autorin nach der Premiere zu Füßen lag.

Als Zugabe intonierte das Ensemble dann „Fremd bin ich ausgezogen“ aus Schubert „Winterreise“, aber auch „Der Kaschpar isch tot, der Bär isch verreckt“. Daß man Einar Schleef um eine Fußabdruck auf der „Straße der Sieger“ bittet, ist trotz allem eher unwahrscheinlich. Es wäre ihm natürlich auch unangenehm.