Bomben und Milchschnitten

In Görlitz sind drei Bomben gegen einen westlichen Immobilienmakler explodiert. Implodiert ist nach der Wende das soziale Gefüge der östlichsten deutschen Stadt. Man hält sich tapfer, ein paar Milchbubis haben ihren Spaß  ■ Von Andrea Böhm

Vielleicht werden die Probleme unten auf der Straße etwas kleiner, wenn man sie aus dem Fenster des Kaisertrutz betrachtet. Kretzschmar sitzt in seinem Dienstzimmer hinter den dicken Mauern und sortiert Gegenwart und Vergangenheit. Vor ihm der Gründerzeit- Schreibtisch, neben ihm der Biedermeier-Sekretär mit den Geheimfächern, in denen er ein paar DDR-Geldscheine aufbewahrt. Obendrauf stehen in Puppengröße Goethe und Schiller und schauen erhaben auf ein Mannschaftsfoto der „Görlitzer Turnerschaft“ von 1907. Stramme junge Herren mit durchgedrücktem Kreuz, deren Blick wiederum aufs Bücherregal fällt: Marx und Engels stehen da neben „100 Jahre Barmer Ersatzkasse“ und dem Bildband über „Europäische Hieb- und Stichwaffen“. Mehr Geschichte kann man auf 12 Quadratmetern beim besten Willen nicht unterbringen. Der Rest steckt in Kretzschmars Kopf. Vom Dreißigjährigen Krieg, als schwedische Soldaten mit reichlich Hieb- und Stichwaffen im Kaisertrutz auf den Angriff kaisertreuer Heere warteten, bis zu den Bomben, die in den letzten Monaten ein paar Häuserblocks entfernt in der Luisen- und Gartenstraße hochgingen.

Bomben passen nicht zu Görlitz. Nicht, daß es einen passenden Ort für sie gäbe. Aber bei einem Spaziergang durch die Altstadt würde sich niemand wundern, wenn ein Trupp schwedischer Soldaten aus dem 17. Jahrhundert vorbeimarschierte. Es sind die Männer des USBV-Kommandos, die vor dieser Kulisse völlig aus dem Rahmen fallen. Das Kürzel steht für eine Sonderabteilung des sächsischen Landeskriminalamtes und für eine typisch beamtendeutsche Wortschöpfung: „Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung“. Bomben eben. Von denen sind in Görlitz in den letzten elf Monaten drei explodiert. Die erste detonierte im März letzten Jahres in einem Papierkorb und verletzte niemanden. Die zweite zündete ein USBV-Team, nachdem vorher ein Wohnhaus evakuiert wurde. Die dritte ging einen Tag vor Silvester hoch und verursachte nur Sachschaden, weil ein parkender Lastwagen die Druckwelle abschirmte. Zuletzt rückten die USBVler in Görlitz am 15. Januar aus, nachdem jemand gemeldet hatte, daß im Paternoster des ehrwürdigen, 600 Jahre alten Rathauses ein Päckchen mit einem Wecker und einem herausragenden Draht auf- und abfuhr. Der Oberbürgermeister mußte seine Pressekonferenz zur Stadtentwicklung absagen und mit den 200 MitarbeiterInnen vor die Tür auf den nicht minder altehrwürdigen Untermarkt flüchten. Ins Rathaus hinein fuhr ein funkgesteuerter Roboter, der das Päckchen zerlegte, was sich im nachhinein zwar als unkonventionell, aber nicht als Sprengvorrichtung erwies. Drei 14jährige Schüler – so ergab deren polizeiliche Vernehmung – hatten ein bißchen Spaß haben wollen.

Gelacht haben die Görlitzer darüber nicht, aber so richtig außer sich geraten sie auch nicht. Man hat sich, so scheint es, daran gewöhnt, mit falschem und richtigem Bombenalarm zu leben. „Vielleicht nenn' ich mein Restaurant jetzt nicht mehr ,Porta Marina‘, sondern ,Bomba Marina‘“, sagt der Besitzer der italienischen Gaststätte in der Luisenstraße, neben deren Eingang der zweite Sprengsatz gezündet wurde. „Ist halt vorbei mit der Ruhe hier“, sagt die Verkäuferin der Bäckerei Tschantner zwei Häuser weiter. Und kichert, als wäre ihr gerade der Streuselkuchen mißraten. „Was meinen Sie, wie viele Bürger hier anrufen, um verdächtige Päckchen zu melden“, stöhnt der Polizeisprecher am Obermarkt. Ein paar Wochen ist es her, da wurde am Dicken Turm eine üppig verpackte Milchschnitte entschärft.

Kretzschmar sitzt im Kaisertrutz und begutachtet Schätze aus dem Nachlaß Görlitzer Bürger. Ein Poesiealbum von 1909, ein Kochbuch von 1900. Er ist ein kleiner Mann mit leicht gebeugten Schultern, grauen Haaren, die von einer Schläfe über den Kopf auf die andere gekämmt sind, einem immerwährenden Lächeln, einer gestochen scharfen Ausdrucksweise und einem Doktortitel. Die Architekturepochen seiner Stadt von der Spätgotik bis zum Jugendstil referiert er ebenso druckreif wie die Ära nach 1990, die er „den Einzug der amerikanischen Lebensweise“ nennt. Er sagt das nicht mit Enttäuschung und Verbitterung in der Stimme, sondern weil eben jede Epoche einen Namen braucht.

Seit dem „Einzug der amerikanischen Lebensweise“ hat Kretzschmar zwei Wohnungseinbrüche erlebt. Einmal lauerte ihm einer zu Hause auf und hielt ihm das Messer an die Kehle. „Das war ein Deutscher“, betont er, weil man in Görlitz solche Vorfälle gern mit der unmittelbaren Nachbarschaft zu Polen erklärt.

Der Görlitzer Karateverein bietet jetzt Kurse für Senioren an, „weil die“, sagt Kretzschmar, „am meisten Angst haben“. Vielleicht aber auch, weil es immer weniger junge Leute gibt, die man für Kampfsport interessieren könnte. Die Bevölkerung schrumpft. 80.000 Einwohner waren es zu DDR-Zeiten. 63.000 sind es heute. Immer mehr Junge ziehen in den Westen. Denn seit dem „Einzug der amerikanischen Lebensweise“ ist zuviel kaputtgegangen: die Textilindustrie, die Süßwarenfabrik, die Optikbetriebe, das Elektroschaltgerätewerk – und vor drei Wochen machte auch noch Hagenwerder dicht, das Wärmekraftwerk. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 22 Prozent. Kretzschmar hat es letztes Jahr erwischt. Seine Stelle als Historiker bei den „Städtischen Kunstsammlungen Görlitz“ fiel der „Verschlankung“ der öffentlichen Verwaltung zum Opfer. Aber sein Dienstzimmer im Kaisertrutz hat man ihm gelassen. Jetzt macht der 64jährige unbezahlt dieselbe Arbeit wie bisher: Ausstellungen, Stadtführungen, Broschüren, Vorträge. „Ich bin erwerbslos“, sagt er, „aber nicht arbeitslos.“ Und lächelt.

Es ist auch viel aufgebaut und erneuert worden – vor allem Häuser und Fassaden. Denn das größte Kapital der Stadt waren nach der Wende die Stadtbauten selbst – ein dreidimensionales Bilderbuch vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, das sowohl vom Zweiten Weltkrieg wie auch von realsozialistischen Architekten weitgehend verschont geblieben war. Allerdings auch von jedweden Programmen zur Instandsetzung. Es kamen also aus dem Westen Denkmalschützer und Privatpersonen mit Rückerstattungsansprüchen. Ein paar dehnten diese gleich auf die ehemals deutschen Gebiete auf polnischer Seite aus. Es kamen Immobilienmakler und Bauunternehmer. Es kamen Gelder aus Bonn und Dresden, auf daß bald Touristen und neue Mieter in engen Handwerksgassen zwischen Goldschmieden, Galerien und Gastronomie das Gefühl genießen sollten, die Zeit sei stehengeblieben. Seitdem wird mit sichtbarem Erfolg erneuert. Kretzschmar, der Stadtführer, weiß, in welchem Haus einst welcher mittelalterliche Handwerksbetrieb saß – und welcher kleine Baulöwe der Gegenwart ein bißchen zu laut gebrüllt hat. Ein gewisser Ekke Lehmann aus Bielefeld zum Beispiel sitzt inzwischen hinter Gittern, seine Görlitzer Häuser werden im Rathaus zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben. „Das“, sagt Kretzschmar, „war unser kleiner Jürgen Schneider.“ Thomas Birken, Investor aus Süddeutschland, war da erfolgreicher: Zwanzig Häuser hat er gekauft, saniert und weiterverkauft. Das hat ihm vermutlich viel Geld, ganz sicher aber eine potentiell tödliche Feindschaft und Polizeischutz eingebracht. Denn es sind seine Häuser, vor denen jene drei Sprengsätze plaziert worden waren. Das LKA ermittelt und bestätigt gerade soviel, wie jeder in Görlitz inzwischen zu wissen meint: daß Birken einige Rechnungen nicht bezahlt habe und der Gläubiger sich seine Kompensation nun mit dieser drastischen Form der Geschäftsschädigung holen wolle. „Bomben im Baugeschäft“, sagt der LKA- Mann in der Pressestelle, „das ist bundesweit nicht die Normalität.“ Der Oberbürgermeister möchte es lieber als Naturereignis verstanden wissen, das jede Region treffen kann. „Wie die Schweinepest. Da kann man alle Vorsichtsmaßnahmen einhalten – und dann bricht sie doch aus.“ Kretzschmar versteht es als Teil der amerikanischen Lebensweise, wo ein paar Tage zwischen Gewinn und Konkurs entscheiden können: „Ein kleines Baugeschäft geht ganz schnell kaputt, wenn der Auftraggeber nicht pünktlich zahlt.“

Schulden sind überhaupt ein omnipräsentes Problem. Im Rathaus hängen weit mehr Bekanntmachungen von Zwangsversteigerungen als von Heiratsaufgeboten aus.

Nicht, daß die Görlitzer sich den westlichen Appellen an Unternehmergeist und Risikobereitschaft verschlossen hätten. Es wimmelt von kleinen Läden. Bäckereien, Metzgereien und Apotheken erdrücken sich gegenseitig, während Immobilienmakler den Charme der teilrenovierten Altstadt zu vermarkten suchen. Siebenhundert Mark für eine Einzimmerwohnung von 55 Quadratmetern würde man selbst in Berlin nicht als Schnäppchen ansehen. Zwölf Mark Miete pro Quadratmeter für Gewerberäume erscheint wiederum traumhaft günstig. Aber mit dem Gewerbe ist das so eine Sache. In den Sportgeschäften, bei den zahlreichen Optikern, im Sanitätsgeschäft oder bei „Peggys Brautmoden“ verbringt man viel Zeit damit, auf Kunden zu warten, die zum Schneider, zum Friseur oder zum Lebensmittelkauf lieber auf die polnische Seite gehen, wo es billiger ist.

In den Restaurants und Cafés herrscht abends gähnende Leere – sieht man mal von „City Kebap“ ab, dessen Besitzer drei pöbelnden Skinheads zum x-ten Mal Lokalverbot erteilt. Kretzschmar, der auch vor rechtsradikalen Gruppen Vorträge hält, „weil man mit allen reden muß“, würde die Jungen mit den Glatzköpfen jetzt über die einst blühenden Verbindungen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich aufklären.

Und dem Jungunternehmer in seinem Laden „Musikszene Görlitz“ würde Kretzschmar erklären, daß auch viele Juden in Görlitz vor dem Nationalsozialismus sehr national-konservativ gedacht haben. Die Juden sind aus bekannten Gründen aus Görlitz verschwunden – die Jugendstil-Synagoge wird gerade restauriert. Das interessiert den jungen Mann, der zu „doitschen Preisen“ CDs von rechtsradikalen Gruppen wie „Noie Werte“ oder „Arisches Blut“ verkauft, ebensowenig wie die Bombenserie in seiner Stadt. Mangels Laufkundschaft beschäftigt er sich vor allem mit der Frage, wer seiner Schaufensterscheibe ein pflastersteingroßes Loch verpaßt hat. Hinter ihm hängt zwischen Skinhead-Plakaten ein Poster der New Yorker Freiheitsstatue. Unter amerikanischer Lebensweise versteht in Görlitz eben jeder etwas anderes.