Schreiben am unteren Ende unserer Welt

■ Australien ist nicht nur Outback und das Opera House in Sydney. Australien ist das Land der Literatur, der schwarzen und der weißen

Literatur ist nicht unbedingt das erste, was einem zum Thema Australien einfällt. Manchem ist zwar bekannt, daß die Buchvorlage zu „Schindlers Liste“ von einem Australier stammt (Thomas Keneally; auf Porträts trägt er gern einen Outback-Hut im Stil von „Crocodile Dundee“). Wer sich etwas eingehender mit dem Thema beschäftigt hat, kennt auch Patrick White (Nobelpreis für Literatur 1973), David Malouf oder Peter Carey. Damit hat es sich aber meist. Australien, das ist das Land der endlosen Wüsten – tendenziell rötlich –, der Schafe, Rucksacktouristen und Dornenvögel. Für diejenigen, die Bruce Chatwins „Traumpfade“ gelesen haben, auch der Aborigines und ihrer faszinierenden Mythologie.

Die Autoren von Reisebüchern teilen mit den Lesern die Perspektive von außen; sie kommen, sehen, gehen. Die Literatur eines Landes dagegen kommt von innen. In ihr verständigt sich die Kultur eines Landes über sich selbst. Wer als Reisevorbereitung Literatur aus Australien statt Reisebüchern über Australien liest, erfährt zwar nichts über die besten und billigsten Übernachtungsmöglichkeiten, die lohnenswertesten Ausflugsziele oder die abenteuerlichsten Opalsuchereien. Dafür liest er aber – in den verschiedensten Arten der Verfremdung – davon, was es heißt, in Australien zu leben.

Womit wir beim Thema wären. Eine hervorragende Möglichkeit, sich einen Eindruck von der Literatur Australiens zu verschaffen, bietet das Heft 7 von Chelsea Hotel, einem Magazine for the Arts, das sich speziell dem Thema Australien widmet. Die Ausgabe versammelt 27 zeitgenössische australische Autoren, schwarze und weiße, mit Erzählungen, Gedichten oder Reflexionen. Daneben einige gelehrte Texte über Literatur, Musik, Theater und Film, informativ, aber – mit Ausnahme des Essays über Musik – etwas schwergängig. Die Bandbreite der Themen ist groß: eine Mutter-Sohn-Beziehung, die sich nicht als solche darstellt; menschliche Krokodile, natürlich bösartig; die enorme Bedeutung eines Superman-T-Shirts in einer Einwanderersiedlung; die Unmöglichkeit, als Aborigine von den Weißen fair behandelt zu werden; das Leben einer emanzipierten Frau („Die Freiheit ist gut“); ein japanischer Narziß, der sich mit der Rasierklinge traktiert; selbsternannte Künstler in Suburbia und ähnliches mehr. Die Geschichten und Gedichte vermitteln eine gute Vorstellung von der Variationsbreite australischer Lebensweisen. Und sei es auch nur mit dem Ergebnis, daß es die „australische Thematik“ schlechthin nicht gibt.

Wie eng in der modernen Welt Literatur mit der Selbstbehauptung einer Kultur verknüpft ist, zeigt das Beispiel der Aborigines. Die erste Buchveröffentlichung einer Aborigine stammt aus dem Jahre 1964 (!), volle Bürgerrechte erhielten sie 1967 (!). Die Literatur der Aborigines ist – verständlicherweise – stark von ihrem Verhältnis zur dominanten weißen Kultur geprägt, daneben aber auch von der bewußten Rückkehr zu ihren eigenen Wurzeln: was es bedeutet, in einer Aboriginefamilie aufzuwachsen, was Menschen mit Krokodilen gemeinsam haben, was Weiße und Schwarze nicht gemeinsam haben.

Ein nettes Zubrot des Bandes ist, daß der Blick des Lesers in zwei Fällen umgelenkt wird. Es werden die Erfahrungen von Australiern in Europa thematisiert, einmal exzellent und einmal unsäglich. David Malouf beschreibt sehr feinsinnig die Begegnung eines australischen Touristen mit einer selbsternannten Stadtführerin in Brügge, der Romanautor Nicholas Jose resümiert seine Bekanntschaft mit einer deutschen Arztfamilie über die Jahrzehnte hinweg. Den Vogel schießt er mit einer Tagebuchnotiz von Weihnachten 1968 ab: „Dr. M. wurde ins Krankenhaus gerufen. Er kam nicht gerade frohgelaunt zurück, denn ein Baby war gestorben – aber so ist das deutsche Weihnachten: gleichzeitig froh und traurig.“ Martin Hager

„Chelsea Hotel. A Magazine for the Arts“, hrsg. von Klaus Isele und Eva Taubert, „Australia“, volume 7, 1. Hj. 95, 25 DM.