Diplomat im Sanierungsland

Gesichter der Großstadt: Hartwig Dieser koordiniert seit Anfang 1990 die Stadterneuerung in Mitte. Ein Pragmatiker zwischen den Mühlen der Realität  ■ Von Ulrike Steglich

Hartwig Dieser kennt inzwischen wohl jedes Grundstück in der Spandauer und Rosenthaler Vorstadt in Mitte. Für beide Gebiete ist er seit 1990 der Sanierungsbeauftragte des Landes Berlin. Manche nennen ihn einen Westpionier im Osten. Es klingt nach Hochachtung. Er selbst hat „ein bißchen Probleme mit solchen Begriffen“. Weil sie implizieren, daß mit dem Blick des Vorherigen das Neue als Unbekanntes per se betrachtet wird. Aber Neuland war es schon für ihn.

Das von ihm geleitete „Koordinationsbüro zur Unterstützung der Stadterneuerung in Berlin“ wurde Anfang 1990 das erste Büro des damaligen Westberliner Senats im Osten. Eine merkwürdige Situation: „Schließlich existierten noch zwei Staaten, und jeden Morgen fuhren wir mit dem Auto rüber. Die Situation war für mich durch ungeheure Brüche gekennzeichnet und durch große Unsicherheit bei den Leuten, die zu uns ins Büro kamen.“

Der 53jährige ist ein Praktiker: In der Praxis habe er immer mehr gelernt als im Studium. Der Rheinländer absolvierte eine Lehre und arbeitete als Maschinenbauer, zog 1971 nach einem Architekturstudium schließlich nach Berlin und studierte hier Stadtplanung, parallel arbeitete er als Architekt. Und weil im Stadtplanungsstudium der ihm wichtige Zusammenhang zwischen baulich- räumlichen und sozialen Aspekten zu wenig beachtet wurde, hängte er gleich noch ein Soziologiestudium dran. Seit 25 Jahren wohnt er in Schöneberg, arbeitete dort in der Mieterberatung und sieben Jahre in der Betroffenenvertretung.

Das für die beiden Sanierungsgebiete in Mitte zuständige Koordinationsbüro ist keine Behörde, sondern von der Senatsbauverwaltung beauftragt, in Zusammenarbeit mit dem Bezirk die Sanierung gemäß den erklärten Zielen umzusetzen. Die Entscheidungen liegen letztendlich beim Bezirk. Die monatlich stattfindenden „Steuerungsrunden“, in denen Bezirksamts- und Senatsmitarbeiter, Betroffenenvertretung und Mieterberatung die aktuellen Themen im Sanierungsgebiet diskutieren, moderiert Hartwig Dieser. Er tut es ruhig, konzentriert, sachlich. Und es muß ihm schon etwas sehr gegen den Strich gehen – zum Beispiel ein arroganter Junginvestor – daß eine ironische Bemerkung fällt, eine dezente Anspielung, ein knapper Nebensatz. Der aber trifft. Auch ein Ausdruck von Kompetenz. Unterschiedlichste Interessen sind zu koordinieren: Eigentümer, Bezirk, Senat, Wohnungsbaugesellschaft, Anwohner, Gewerbetreibende. In der Spandauer Vorstadt werden 96 Prozent sämtlicher Grundstücke rückübertragen, das Gebiet wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Eigentümer geprägt.

Anders als im Westteil der Stadt, wo oft Sanierungsträger und Wohnungsbaugesellschaften das Gegenüber waren. Eine neue Erfahrung auch für das Koordinationsbüro, das die Eigentümer berät. Noch 1992 nahm man an, daß etwa ein Viertel der Eigentümer ihr Haus behalten würden. Eigentümer, hoffte Dieser, „die eine Beziehung zu dem Gebiet haben, Verantwortung übernehmen und nicht versuchen, den maximalen Profit herauszuholen, um nach zehn Jahren das Haus wie eine ausgepreßte Zitrone fallenzulassen“. Jetzt sind es „nach vorsichtigen Schätzungen“ nur noch 5 bis 8 Prozent, die ihr Haus behalten. Der Rest der Hauseigentümer veräußert weiter.

Eine „sozialverträgliche Stadterneuerung“ durchzusetzen ist nicht einfach in einem Gebiet wie der Spandauer Vorstadt. Der Druck ist groß. Hartwig Dieser weiß das. „Das besondere Flair fasziniert die Leute und erhöht andererseits den Verwertungsdruck derjenigen, die wissen, daß sich das wieder in Mark umrechnen läßt. So kämpft man praktisch in jedem Einzelfall, daß die, die in den Häusern wohnen, auch drinbleiben können.“

Das Koordinationsbüro vermittelte auch zwischen Selbsthilfegruppen und Eigentümern. Für manche Häuser wurde gezielt nach Käufern gesucht, die sowohl den Kaufpreis als auch die Interessen der Selbsthelfer akzeptieren. Bei manchen hat es geklappt. Dieser, der Diplomat im aufgewühlten Sanierungsland. „Das ist zwar immer sehr mühsam, bis man zu einem positiven Ergebnis kommt, aber es lohnt.“

Bei einem besetzten Haus scheiterten alle Vermittlungsversuche – es wurde geräumt. Kommt man sich dann nicht manchmal vor wie Don Quijote? „Schon. Weil die Interessenlagen manchmal so konträr sind. Wenn man aber sieht, daß selbst nach mehreren Gesprächsversuchen die Leute sich nicht mal die Hand geben können, muß man irgendwann das Scheitern eingestehen.“

Manches ist eben nicht machbar. „Zum Glück entwickelt man auch eine gewisse Distanz. Ähnlich wie bei Sozialarbeitern oder Ärzten – die müßten bei jedem, dem sie nicht helfen können, ja auch verzweifeln. Da ist sicher immer wieder Frust, aber es ist auch ein Ausdruck der Verhältnisse, daß man mit den Wunschvorstellungen die Realität nicht immer gestalten kann.“

Aber auch der geduldigste Vermittler und Moderator muß doch mal ein Ventil finden? „Man kann so eine Arbeit nur machen, wenn man von seinem Naturell her auch dazu neigt.“ Dieser grinst ein bißchen. „Ich bin Waage.“

Ohnehin weiß er, daß Prinzipielles, zum Beispiel gesetzliche Regelungen, von hier aus nur marginal beeinflußbar ist. Pragmatisch werden die Energien auf das Machbare konzentriert. Machbar ist der Versuch, die täglichen praktischen Erfahrungen rückzukoppeln in die Verwaltung, „die ja kaum einen Eigentümer oder Gewerbetreibenden leibhaftig zu Gesicht bekommt“. Impfen, nennt Dieser das.

Hartwig Dieser bleibt Praktiker. Die Vorstellung, in einem Senatsbüro zu sitzen und „auf die Uhr zu gucken, wann man in die Kantine geht und wann Feierabend ist, finde ich einfach fürchterlich“.