■ Nachschlag: Kampnagel-„Memory“ im Theater zum Westlichen Stadthirschen
Mit der Erinnerung verhält es sich sonderbar. Jeder braucht sie, denn ohne Wurzeln kann man nicht wachsen, und ohne das Gestern bleibt das Heute bodenlos. Wie aber arbeitet das Gedächtnis? Woran hält es sich fest und was bekommt es letztlich zu fassen? Die einmal gelebte Wahrheit oder nur eine bläßlich-verzerrte Kopie? Heinrich Rolfing (Regie) und Ralf Knicker (Idee und Spiel) sind diesen Fragen nachgegangen. Ihre Hamburger Kampnagel-Produktion „Memory“ ist derzeit im Theater zum Westlichen Stadthirschen zu Gast und konnte bei der Premiere nur wenig Publikum anlocken. Zu Unrecht, denn der „Versuch über Erinnerung“ zeigt kein schwerblütiges Graben im Gedächtnisschutt, sondern meistert das Thema mit grandioser Leichtigkeit. Daß es dabei nicht flach wird, ist Ralf Knicker zu verdanken, der als sensibler Erinnerungskünstler in sonnengelbem Samt schlicht hinreißend ist: Selbstvergessen und behutsam wandelt die lichte Gestalt durch das Museum seiner eigenen Geschichte, entdeckt zwischen angegammelten Koffern, Ansichtskarten und pausbäckigen Kindheitsdias fast beiläufig Gewesenes,
wird plötzlich verlegen und schreit panisch: „Das geht keinen was an!“ Der Zuschauer als Voyeur, als Zeuge von Gesten und Worten, die oft so seltsam schräg sitzen, als hätte sie die Erinnerung just im Moment und erst mal nur auf Probe freigegeben. Viele „Irgendwies“, „Ach- nees“ und „Ja-genaus“ zeigen, daß das Gedächtnis demselben Weg folgt wie Proust mit seinen Madeleines und Knicker mit seinen Memory-Karten: Es hangelt sich von einem Bild zum nächsten, vom Gegenstand zum Duft zum Gefühl, bis aus dem banalsten Detail eine ganze (vergangene) Welt erwächst. Ganz so intim bleibt es nicht an diesem Abend. Das private Erinnern mutiert fast unmerklich zum öffentlichen Gedenken: Ein überdimensionales Memory-Spiel gibt eine Skizze des Vernichtungslagers Birkenau frei. Und der ehemalige Besucher erzählt. Doch die Verknüpfung des realen Ortes mit dem einstigen Schrecken will ihm nicht recht gelingen. Erinnert wird Gelesenes, Gehörtes – was sonst? Das Museum Gedenkstätte hat das erlebte Leid von Tausenden in Artefakte verwandelt, in denen es für die Nachgeborenen aufgehoben und verloren ist. Wiederfinden kann es nur der, der es selbst erlebt hat und dem schon beim Anblick der harmlosen Birken der Gasgeruch in die Nase steigt. Knicker kann die Details seiner Espressomaschine zum Leben erwecken, daß einem die Lachtränen kommen – vor dem Erinnerungswerteren muß er mit unsagbar traurigen Augen kapitulieren. Sabine Leucht
Heute und 6.–9.2., jeweils 20 Uhr, Theater zum Westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstraße 37
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