Sicheres Terrain mit hoher Abschußquote

Für Journalisten, die über das Elend in Rumänien berichten wollen, sind die Straßenkinder vom Bukarester Nordbahnhof lohnende Objekte. Und damit die Geschichten richtig rüberkommen, wird auch mal ein wenig arrangiert  ■ Aus Bukarest Keno Verseck

Gewöhnlich treiben sich am Bukarester Nordbahnhof immer ein paar Kamerateams herum. Die aus dem Ausland kommen gern um die Weihnachtszeit oder später im Winter. Aber es ist nicht mehr viel zu holen an Aufnahmen. Höchstens das Bahnhofsgebäude als Glied in der Assoziationskette. Vielleicht noch ein paar ältere Penner im Park gegenüber. Die Kinder aber werden von Sicherheitsleuten aus der unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs vertrieben. Und in den Bahnhof selbst kommt überhaupt nur, wer 1.500 Lei Eintritt bezahlt oder eine Fahrkarte hat. Es ist jetzt sauberer dort, ansehnlicher. Zivilisierter, wie die Rumänen sich gerne ausdrücken. Und deshalb ist das Geschäft mit den Bildern schwieriger geworden. Rumänien–Bukarest–Nordbahnhof–Straßenkinder. Eine immer wiederkehrende Assoziationskette. Auf der Jagd nach Bildern, nach Stories, bei denen zwischen Grauen und Faszination, zwischen Abscheu und Voyeurismus kein Unterschied mehr besteht, war der Bukarester Nordbahnhof bisher ein sicheres Terrain. Mit hoher Abschußquote. Mit Fanggarantie.

Straßenkinder, bettelnd. Straßenkinder, Lösungsmittel schnüffelnd. Straßenkinder in den Abwasserkanälen. Mutter tot, Vater brutaler Alkoholiker, acht Geschwister, von zu Hause abgehauen. Oder anders: Vater Knast, Mutter Psychiatrie, sexuell mißbraucht, dann abgehauen. Oder noch anders. Es gibt viele Varianten. Zahllose Varianten ohne Variation. Varianten einer Konstante.

„Letztes Jahr im Winter rief mich eine Frau von einem deutschen Privatsender an. Sie wolle etwas über Straßenkinder in Bukarest drehen, ob ich ihr nicht helfen könne. Die redete so zehn Minuten, dann kam sie zur Sache. Herr Kessler, sie wissen doch, was wir wollen... Ein paar tote Kinder im Schnee. Ob sich das nicht irgendwie arrangieren ließe. Ich hab' nichts dazu gesagt, sondern mich nur entschuldigt, daß ich leider keine Zeit hätte und ihr nicht helfen könne.“

Das erzählt Malte Kessler. Der gebürtige Bukarester arbeitet als Wirtschaftsredakteur bei der Allgemeinen Deutschen Zeitung, der Zeitung der deutschen Minderheit in Rumänien, und als Mitarbeiter, Begleiter und Übersetzer für deutsche Fernsehsender. „Manche Journalisten wissen genau, was sie wollen, noch bevor sie hier ankommen. Für die ist Recherche nur Alibi“, sagt er. „Straßenkinder sind ein einfaches, dankbares Thema, um die Zuschauer und Leser aufzurütteln.“

Das Beispiel, das er anführt, ist nur eines von vielen. Auch andere Journalisten, die in Bukarest für westliche Medien arbeiten, können ähnliches erzählen. Mal sind die Bilder vom rumänischen Elend nicht drastisch genug. Mal will ein Fernsehsender eine Szene nachspielen lassen, in der ein Pädophiler ein Straßenkind abschleppt und mißbraucht. Es wird „zugespitzt“, wie es im Journalistenjargon heißt, bis der Beitrag den entsprechenden Thrill hat.

Ilie* lebt auf der Straße. Er hat viele Erfahrungen mit Journalisten gemacht. Auch ich bekomme seinen Unmut zu spüren.

„Laß mich in Ruhe mit Journalisten! Die bescheißen uns alle nur.“

„Warum?“

„Na, die machen mit den Filmen über uns Geld. Dollar, Mark. Aber uns geben sie gar nichts. Die kommen an und erzählen, daß für uns ein Heim gebaut wird. Dann geben sie uns was zu essen. Und stellen dumme Fragen. Warum ich von zu Hause abgehauen bin. Warum ich auf der Straße bin und so.“

„Und was antwortest du?“

„Was weiß ich. Irgendwas. Daß ich mit acht von zu Hause abgehauen bin. Daß ich keinen Beruf und keine Arbeit hab', daß ich im Kanal schlafe.“

„Stimmt das nicht?“

„Doch, aber... Die vom rumänischen Fernsehen haben mir einen Arbeitsplatz versprochen. Dann waren auch mal Engländer da, die kamen mit Bananen und belegten Broten an. Und dann waren auch welche aus der Schweiz, aus Holland und aus Deutschland da. Von überall. Die versprechen alles mögliche und halten ihr Wort nicht. Die Engländer haben uns Sachen zum Anziehen versprochen. Aber nichts kam. Die nehmen uns auf Kassette auf und verarschen uns in ihren Filmen.“

„Mußtest du etwas vorspielen?“

„Nein, das gab's bis jetzt noch nicht. Bloß einmal kamen Journalisten mit einem Popen vorbei. Wir mußten vor dem Popen niederknien und das Vaterunser aufsagen. Dann haben sie uns auch unten im Kanal gefilmt. Am Ende haben wir ihre Kamera und die Kassetten geklaut und alles kaputtgeschlagen.“

Ilie ist jetzt 22. Der Älteste in einer Clique von sechs, sieben Jungen. Die anderen sind zwischen 10 und 15. Sie wohnen nicht am Bukarester Nordbahnhof, sondern am Platz der Einheit. Tagsüber stehen sie meistens in einem Geschäft hinter dem großen „Kaufhaus der Einheit“. Es ist eines dieser typischen Bukarester Geschäfte mit vollkommen willkürlich kombiniertem Warenangebot. Es gibt gebrauchte Fernseher und geschmuggelte Lederimitatjacken aus Istanbul, Süßigkeiten, Waschmittel und billige Computerspiele, gefälschten Markenkaffee und gefälschten Markenkognak aus dem Chemiekomplex in der südrumänischen Raffinerie- Stadt Ploiesti.

Der Chef des Ladens kennt die Jungs aus der Clique. Einem von ihnen hat er vor kurzem einen Job gegeben: Nicu, ein 15jähriger, paßt auf, wer hereinkommt, macht sauber und kriegt dafür etwas Geld. Drinnen ist es warm. In einer Vitrine läuft ein Fernseher.

Nachts schlafen sie im Abwasserkanal. Und da wollten sie bisher auch immer bleiben: im Kanal, auf der Straße. Keiner von ihnen hat es lange in irgendeinem Haus für Obdachlose und Waisenkinder ausgehalten. Ein paarmal in der Woche kümmern sich Lili und Victor, zwei Sozialarbeiter von der rumänischen Organisation „Rettet die Kinder“, um sie. Sie kaufen Lebensmittel ein, versuchen, die Jungen zu einem Schulbesuch zu überreden, ihnen einen Ausbildungsplatz zu vermitteln und Probleme mit Behörden zu lösen.

An einem Tag gehen wir zusammen Billard spielen. In einer Bar gegenüber dem Geschäft, in dem sie tagsüber sind. Es ist eine dieser halb trostlosen, halb illustren Bukarester Bars. Billig, dreckig, ungeheizt. Wo jeder so laut und so lange schreien darf, wie er will. Wo niemand über irgendeinen anderen die Nase rümpft und jeder den anderen in Ruhe läßt. Wo die Straßenkinder auch dann nicht rausgeschmissen werden, wenn sie nichts bestellen.

Die Jungen spielen gerne Billard. Doch an diesem Tag trifft Ilie kaum einmal die Kugel. In seiner Hemdtasche steckt eine Tüte mit Lösungsmittel. Er hat „Aurolac gezogen“, wie es im rumänischen Jargon heißt. Nachdem das Spiel zu Ende ist, setzt er sich hin und starrt mißmutig auf seinen leeren Kaffeebecher. Victor fragt ihn nach dem Klebstoff. Er murmelt abwehrend.

„Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?“

„Mir sind schon alle Wünsche in Erfüllung gegangen.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel wollte ich einen Kassettenrecorder. Den hab' ich bekommen.“

„Hast du keine größeren Wünsche?“

„Nein, vorläufig nicht.“

Später gehen wir zusammen einkaufen. Brot, etwas Wurst. Victor bezahlt. Doch die Verkäuferin will Ilie die Ware nicht geben, sondern macht sich über ihn lustig. „Bei euch Pennern hol' ich mir ja doch nur Läuse!“ schreit sie laut durch den ganzen Laden. Dann wirft sie das Brot und die Wurst schließlich doch auf den Tisch. „So geht das jeden Tag“, sagt Ilie, als wir draußen vor der Tür stehen. Dann verschwindet er im Gedränge der Straße.

„Vor zwei Jahren, als wir anfingen, uns um sie zu kümmern, konnten wir kaum mit ihnen reden“, erzählen Lili und Victor. „Sie waren aggressiv und ständig benebelt vom Lösungsmittel. Es hat Monate gedauert, bis sie uns überhaupt akzeptiert haben. Jetzt ist es viel besser geworden. Sie haben einen festen Platz auf der Straße, sie halten untereinander zusammen, nehmen nicht mehr so oft Klebstoff und sind viel freundlicher. Aber von der Straße wollten sie bisher nicht weg. Sie sind frei, haben immer etwas Geld, können machen, was sie wollen, und brauchen sich nicht unterzuordnen.“

Es gibt mittlerweile „nur noch“ ein paar hundert solcher Kinder und Jugendlicher, die in Bukarest auf der Straße leben. Und noch ein paar hundert anderswo in Rumänien. Keine Zahlen für Sensationsberichte. Werden sie deshalb nicht genannt? Seit 1990 kümmern sich Dutzende von Organisationen um die Straßenkinder. Überall im Land und besonders in Bukarest arbeiten zum Teil mustergültige Kinderheime.

Andere Probleme mit Kindern sind längst gravierender und bedrohlicher für die rumänische Gesellschaft. Während die Zahl der „wirklichen“ Straßenkinder eher abgenommen hat, sind die Zahlen anderer „Kinderkategorien“ konstant geblieben oder gestiegen: Neugeborene, die von ihren Eltern ausgesetzt werden und in Heime kommen; Kinder, die nicht zur Schule gehen; Kinder, die ein Zuhause haben, aber zum Betteln auf die Straße geschickt werden oder arbeiten müssen.

All das gilt nicht nur für Rumänien, sondern auch für andere osteuropäische Länder. Warum trotzdem immer wieder die rumänischen Straßenkinder?

Das fragen sich auch Lili, Victor und alle anderen Mitarbeiter von der Organisation „Rettet die Kinder“. Eine Antwort wissen die meisten nicht. Gabriela Alexandrescu, die Leiterin von „Rettet die Kinder“, sagt: „Manchmal, wenn Journalisten kommen, denke ich: Für die ist Rumänien ein Land, in dem gar keine richtigen Menschen leben. Vielleicht sind vor allem die schrecklichen Bilder, die in den ersten Jahren nach dem Sturz von Nicolae Ceaușescu in den Medien zu sehen waren, bei den Leuten hängengeblieben. Dabei hat sich in diesem Land doch wirklich etwas geändert. Es gibt zwar Journalisten, die das darstellen, aber das sind nur wenige.“

Mariana Celac, Bukarester Architektin und eine der herausragendsten rumänischen Intellektuellen, glaubt eine Antwort gefunden zu haben: „Der Unterschied zu anderen Ländern, in denen ganz genauso Straßenkinder leben, ist folgender: In Rumänien sind diese Kinder der sichtbarste Teil eines schrecklichen gesellschaftlichen Elends, das überall herrscht. Dieses Elend beginnt nicht unten, sondern oben, nämlich bei der Ignoranz der Regierenden. Damit sich daran etwas ändert, müssen die Regierenden zunächst einmal begreifen, was menschliche Würde bedeutet. Das wäre der wirkliche Wandel Rumäniens. Solange der aber nicht stattfindet, werden uns Straßenkinder in den Medien stellvertretend für das ganze Elend gezeigt.“

* Alle Namen der Kinder geändert, die Red.