Wenn sich alle Seiten benachteiligt fühlen

50 Jahre nach der Unabhängigkeit sucht Sri Lanka immer noch nach einem Ausweg aus dem endlosen Konflikt zwischen Tamilen und Singhalesen. Aber der Konflikt ist im Selbstverständnis des Staates angelegt  ■ Von Bernard Imhasly

Delhi (taz) – Die Nachrichten aus Sri Lanka kurz vor dem 50. Jahrestag der Unabhängigkeit, der morgen begangen wird, illustrieren die Widersprüchlichkeit, die den kleinen Inselstaat im Indischen Ozean prägen. Der blutigste Zusammenstoß zwischen Regierungssoldaten und Kämpfern der tamilischen Rebellenbewegung LTTE in diesem Jahr forderte am Wochenende im Norden Sri Lankas über 300 Opfer – einige Tage zuvor hatte das Tourismusministerium bekanntgegeben, im letzten Jahr habe die Anzahl ausländischer Ferienreisenden einen neuen Rekord erreicht.

Besucher Sri Lankras rühmen die Freundlichkeit der Menschen, doch die politischen Konflikte werden mit einer beispiellosen Grausamkeit ausgetragen. Die weltweit einzigartig makabren Selbstmordattentate der LTTE-Kader finden ihr Pendant in den Todesschwadronen der Sicherheitskräfte – doch mit seiner üppigen Tropenlandschaft und seiner guten Infrastruktur bleibt Sri Lanka ein touristischer Anziehungspunkt. Der Bürgerkrieg, der seit 1983 51.000 Menschenleben gekostet hat, wütet oft nur ein paar Dutzend Kilometer von den Hotels entfernt.

Dieser Krieg, der die Verteidigungsbudgets im letzten Jahrzehnt jedes Jahr um zehn Prozent in die Höhe trieb, hat nicht verhindert, daß sich das wirtschaftliche Wachstum im Vergleich zu den Friedenszeiten noch beschleunigt hat. Man muß im Gegenteil annehmen, daß Bildung und Gesundheit mit ihrer Koppelung an eine relativ hohe Jugendarbeitslosigkeit zur politischen Radikalisierung beitragen. Die bürgerkriegsbedingte Emigration vieler Tamilen in den Westen mit ihren substantiellen Devisentransfers fördert die außenwirtschaftliche Stabilität; zugleich hat die Rekrutierung vieler Jugendlichen aus ländlichen Gebieten in die Armee die ländliche Verarmung gebremst.

Die ständige Präsenz einer der schlagkräftigsten und mit seinen Selbstmordtätern kaltblütigsten Guerilla-Armeen der Welt hat im Lauf der Jahre zu einer Einschränkung ziviler Freiheiten geführt, aber sie hat die demokratischen Strukturen des Landes nicht erschüttert. Die tamilische Minderheit (17 Prozent der Bevölkerung) hat zweifellos ihren früheren privilegierten Status eingebüßt, aber der Staat konnte das Umschlagen der ethnischen Spannungen in eine rassistische Pogrom-Stimmung bisher verhindern.

Wie andere Entwicklungen im Subkontinent hat das srilankische Paradox seine Ursprünge in der Kolonialzeit. Im Gegensatz zu seinem widerspenstigen Kronjuwel Indien wollte Großbritannien am damaligen Ceylon das Exempel statuieren, daß eine aufgeklärte Kolonialmacht den Untergebenen nur Gutes bringt. Die lokalen Eliten wurden gefördert, und bei der Entwicklung der Plantagenwirtschaft war einheimisches Kapital bereits vor hundert Jahren zu 70 Prozent beteiligt. Mehr als irgendwo sonst wurden Missionsschulen und -spitäler als Instrumente einer klugen Erziehungs- und Gesundheitspolitik eingesetzt, bereits 1931 wurde das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Das Unabhängigkeitsangebot der britischen Krone war im Gegensatz zu Indien nicht das Resultat einer langjährigen Kampagne des Widerstands, sondern der politischen Entscheidung Londons, sich nach dem Zweiten Weltkrieg seiner Weltmachtrolle zu entledigen.

Die von der britischen Verwaltung bevorzugten Tamilen gingen mit erhöhten Erwartungen in die Unabhängigkeit – die Singhalesen mit einem Gefühl der Benachteiligung. Die singhalesische Bevölkerungsmehrheit blockte die Forderung der Tamilen nach einem 50-Prozent-Anteil der Parlamentssitze ab. Singhalesische Studenten erhielten dagegen bevorzugt Studien- und Arbeitsplätze, singhalesisch wurde zur einzigen Amtssprache erklärt, der Buddhismus wurde Staatsreligion, singhalesische Bauern wurden in traditionellen Tamilen-Gebieten angesiedelt. Damit waren die Grundlagen für den Konflikt gelegt: Eine kleine „Minderheit mit einem Mehrheitskomplex“ – die Tamilen fühlen sich als Teil eines Tamilen-Volks von 70 Millionen – stand eine „Mehrheit mit einem Minderwertigkeitskomplex“ gegenüber.

Dies erklärt die Radikalität und Stärke der tamilischen Volksgruppe. Und es erklärt auch die Kurzsichtigkeit der Führer der Bevölkerungsmehrheit, die jahrzehntelang ihr Heil in einer „Politik der Mehrheit statt der Vielheit“ suchten. Statt sich wie die ehemalige britische Kolonie Indien eine föderalistische Verfassung zu geben, wählten Sri Lankas Regierende eine zentralistische Lösung.

Der Wendepunkt lag nach Ansicht des srilankischen Politologen Saravanamuttu im Jahr 1975, als eine Verfassungsänderung jeden Abgeordneten zum Treue-Eid auf die Verfassung zwang. Die tamilischen Vertreter verließen das Parlament „und aus dem Kampf um mehr Autonomie wurde ein Krieg für ein selbständiges tamilisches Eelam“. Zahlreiche Jugendliche gingen in den Untergrund, und unter den rivalisierenden Gruppen setzten sich schließlich die „Tamil Tigers“ (LTTE) durch.

Seit 1995 versucht Präsidentin Chandrika Kumaratunga, die Fehler ihrer Eltern und Vorgänger wiedergutzumachen. Ihre Strategie ist die kompromißlose militärische Bekämpfung der in den Terror abgeglittenen LTTE, gekoppelt mit einer Verfassungsreform. In ihr sollen die Regionen, vor allem die tamilischen im Norden und Osten des Landes, endlich die Autonomie erhalten, die das Weiterverbleiben im Staatsverband sichern. Gleichzeitig soll die Zentralgewalt aufgeweicht und von einem Präsidialsystem in ein parlamentarisches Regime übergeführt werden. Neben den demokratischen Rechten sollen damit auch die Menschenrechte wieder gestärkt werden, die im langen Konflikt stark gelitten haben.