So viel zur Stille

Was, warum und wo dichtet der Prenzlauer Berg heute? Henryk Gericke, Jörg Schieke und Lutz Seiler kämpften gegen den „Leerstand im Innern“ und lasen im Café Clara „Gedichte vom Rand der Mitte“  ■ Von Volker Weidermann

Man kam in Schwarz. Die Dichter, die Hörer, alle in Schwarz. Nur der Gastgeber war ganz in päpstliches Weiß gekleidet. Es hat immer noch etwas erheblich Weihevolles, wenn der Prenzlauer Berg seinen Dichtern lauscht.

Prenzlauer Berg? Aber das Café Clara liegt in der Dorotheenstraße in Mitte, und die Dichter waren auch eher aus Wilhelmshorst oder Leipzig angereist. Doch erstens ist das Café Clara eines der wenigen Ost-Cafés, das sich noch den leicht verschworen-gemeinschaftlichen, künstlerischen Prenzlberg-Charme bewahrt hat. Zweitens gehören die drei Dichter, Gericke, Schieke und Seiler, zu ein und derselben Generation, genauer: zur „Post-Galrev-Generation“, einer Dichtergruppe, die sich vor einiger Zeit von den Galrev-Kreisen gelöst hat und sich danach, in unterschiedlichen Funktionen, um die ambitionierte Literaturzeitschrift moosbrand neu formierten. Also doch Prenzlauer Berg, denn Prenzlauer Berg ist schon lange Synonym geworden für..., ja wofür eigentlich?

Henryk Gericke, Jörg Schieke und Lutz Seiler, alle Mitte Dreißig, lesen an diesem Abend Innerliches, Stilles, Vergebliches, Endzeitliches in schönen, etwas eitlen und oft sehr hohen Tönen.

„Die Vergeblichkeit war schon immer die Sprache der Poesie.“ Diesen Satz aus Heiner Müllers „Der Auftrag“ hat sich Henryk Gericke für längere Reflexionen ausgewählt. Obwohl er „sonst nicht so der Heiner-Müller-Fan“ ist. Dieser Satz hat ihm gefallen. Und aus seinen Reflexionen wiederum gefielen manchem Zuhörer besonders: „Was ich auch gegen den Leerstand im Innern unternahm: Ich handelte in der zweiten Person.“ Und: „Ich wurde müde. Das weckte mein Interesse an Schlaf.“ Stillstand, Regungslosigkeit und Ruhe.

Gericke findet dafür eine Unzahl eindringlicher Bilder und schöner Worte: „Es war nicht so, daß wir nicht gingen / war es so / alles ging an uns vorbei“ oder „Kein Ereignis trat ein / da war nichts / selbst der Tod schlief außerhalb“ oder „Später machte ich Licht / das war an einem Sonntag vor zehn Tagen.“ Eines von Gerickes Gedichten endet einfach mit dem Satz „So viel zur Stille“.

In diesem Moment fiel einem zu spät gekommenen Zuhörer sein Plastikstuhl beim Versuch, ihn aufzustellen, aufgrund von Materialermüdung schallend auf die Steinfliesen. Kann man sich schon vorstellen, daß man sich da doch leicht sehr stark gestört fühlt, so als Leser und als Hörer. Fühlte man sich dann auch.

Lutz Seiler, Mitherausgeber von moosbrand und Leiter des Peter- Huchel-Hauses in Wilhelmshorst, dichtet ein wenig souveräner, fester, ungeläufiger als Gericke. Da dringt eine häßliche Außenwelt öfter einmal in die Stille ein, die große Stille, die immer innen ist: „Nein, man hört nichts mehr – jetzt kann man wirklich nichts mehr hören.“ Und: „Stand der Schlaf denn bereit? Immer bereit.“ Aber man kann auch von „Die Sonne beatmet den stinkenden Mond“, von „Hirntotensonntag“ und „Fin de siècle“-Gedichten hören, in denen tote Irish Setter auf Wiener Mozart-Brücken an ihren Leinen hin- und hergeschwenkt werden. Und unter dem gleichgültig-trotzigen Langenachwendedebattentitel „Was bleibt bleibt“ heißt es einmal sehr schön: „Vor den Palazzos schlendern die guten Gedichte nach Haus.“

Der dritte der Dichter schließlich, Jörg Schieke, liest an diesem Abend nur Geschichten vor. Die Geschichte eines Revolutionärs, dann die eines Vergessenen und die eines Stuhles zuletzt. In der „Geschichte eines Revolutionärs“ phantasiert er sich in ein besetztes Land hinein („Was ich gut finde an den Besatzern: Sie haben bestimmte Radiosender verboten. Jetzt muß ich keine Schnulzen mehr hören.“) und in die Liebes- und Gewaltphantasien, in denen sich der inhaftierte Revolutionär ergeht. Er träumt „immer öfter von einem folkloristischen Fick im Wald“ und weiß: „Nichts verträgt sich besser mit dem bewaffneten Kampf wie eine leise Streichmusik.“

Dann ist die Stille wieder da. Die Welt ist nur in uns, sonst ist sie nirgendwo, und ist es in uns endlich völlig still und völlig ruhig, dann ist die ganze Welt nicht mehr. Den drei Dichtern vorzuwerfen, daß hier inhaltlich oder formal „nichts vorangehe“, wäre sicherlich das Verfehlteste, denn, lassen wir uns das Ende von Henryk Gericke dichten: „Noch im Verharren stärker zu verharren, war gut.“