■ Bundesrat: Flüchtlinge sollen keine Sozialhilfe mehr bekommen
: Abschied von der zivilen Gesellschaft

Freitag mittag, alle Fernsehkameras starren nach Bonn. So viel Medieninteresse ist selten, wenn der Bundesrat zu einer Abstimmung ruft. In letzter Minute hat der Große Lauschangriff doch noch die Aufmerksamkeit bekommen, die der Tragweite der Entscheidung gebührt. Na bitte! Immerhin ein Auge hält die kritische Öffentlichkeit noch offen. Auf dem anderen bleibt sie weiter blind.

Im Schatten des Lauschangriffs wird am Freitag eine andere Gesetzesänderung ganz unspektakulär den Bundesrat passieren: die Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Keine öffentliche Aufregung, keine sozialdemokratische Zerreißprobe, kein Spiegel-Titel.

Für ein paar Ausländer und Illegale soll die Sozialhilfe gekürzt werden, melden bar jeder Kenntnis die Agenturen. Wer hört da noch hin? Dabei geht es bei der geplanten Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht um ein paar Mark mehr oder weniger für Flüchtlinge. Es geht, ähnlich wie beim Großen Lauschangriff, um den schleichenden Abschied von einem selbstverständlichen Prinzip einer zivilen Gesellschaft. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte gibt die Bundesrepublik hier einen wichtigen Grundsatz ihrer Sozialpolitik auf – den Grundsatz, daß Menschen, die, egal, aus welchen Gründen, in materieller Not sind, einen Anspruch auf menschenwürdige Versorgung haben.

Dieses Prinzip der minimalen Hilfe galt bisher unabhängig von der Schuldfrage, und das war seine humane Stärke. Nun wird für Ausländer, die in Deutschland nur geduldet sind oder unerlaubt hier leben, dieser Grundsatz aufgehoben. Ihnen soll jegliche staatliche Hilfe entzogen werden. So wird Sozialrecht zum Brandbeschleuniger des Ausländerrechts – gnadenlos effektiv, lautlos und billiger als alle polizeilichen Abschiebemaßnahmen, kostensparend um den Preis gefährlicher Gedankenlosigkeit.

Denn wo, bitte schön, sollen die fast 200.000 bosnischen Kriegsflüchtlinge unterkommen, denen das Sozialamt künftig die Miete für die Wohnung streichen muß? Und wie soll ein abgelehnter algerischer Asylbewerber überleben, dem ein Gesetz die Erwerbstätigkeit verbietet und das anderen nun auch die minimale Sozialunterstützung entzieht? Wohl noch nie zuvor hat ein Gesetz so kalkuliert Ungesetzlichkeit geschaffen. Menschen werden in Obdachlosigkeit, Scheinehen, Kriminalität, Bettelei und Schwarzarbeit gedrängt. So produziert der Staat sich seinen sozialen Sprengstoff selbst. Self-fulfilling policy – hinterher brauchen wir dann den Großen Lauschangriff zur Bekämpfung des staatlich provozierten organisierten Verbrechens.

Asylbewerberleistungsgesetz und Lauschangriff – beide Vorhaben haben scheinbar nichts gemein, und doch haben sie einen engeren Zusammenhang als ihre gemeinsame Terminierung im Bundesrat. Denn die Art, wie durch die Gesetze Grundrechte von Flüchtlingen gen Null gefahren werden, sollte den Sozialdemokraten deutliche Warnung vor den eigenen faulen Kompromissen sein.

Schon einmal ließen sich die Sozialdemokraten ihr Ja zu einer Grundgesetzänderung für ein paar Zeilen Kleingedrucktes abkaufen. 1993 stimmten sie dem Asylkompromiß zu, im Gegenzug versprach die Koalition einen sicheren Status für Kriegsflüchtlinge und die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Auf beides wartet man noch heute. Die Regierungskoalition löste ihren Teil des Deals nie ein. Wie naive Butterfahrer ließ sich die SPD über den Tisch ziehen.

Auch als das Asylbewerberleistungsgesetz im vergangenen Jahr zum ersten Mal verschärft wurde, stimmte die SPD im Bundesrat zu. 20 Prozent weniger Sozialhilfe, drei Jahre lang, auch für bosnische Kriegsflüchtlinge – die dadurch eingesparten Kosten in Höhe von 750 Millionen Mark sollten in einen Aufbaufonds für das zerstörte Exjugoslawien fließen – bisher ward keine müde Mark gesehen. Denn kaum hatte die SPD zugestimmt, sagte die CDU/CSU „April, April!“. Ähnlich könnte es dem Lauschangriff gehen. Erst die großgedruckte Grundgesetzänderung mit sozialdemokratischem Segen, die kleingedruckten Zugeständnisse in der Strafprozeßordnung regeln wir später – oder auch nicht. Vera Gaserow