„Willig, überaus billig und nie krank“

Heute gehen Arbeitslose auf die Straße. In Bielefeld wird der bundesweite Protest koordiniert. Die Mitarbeiter der Initiative sind die Veteranen unter den Arbeitslosen. Sie hoffen auf eine breite Bewegung  ■ Von Tobias Deimann und Walter Jakobs

Die Telefone klingeln pausenlos. Auch per Fax kommen nur noch die Geduldigsten durch. „Hier ist die Hölle los“, stöhnt Herma Benub. Doch dieser Streß macht Spaß: „Es wird Zeit, daß auch bei uns mal was passiert.“ Es scheint tatsächlich so, als winke nun endlich der Lohn jahrelanger Arbeit.

Von überall rufen plötzlich Arbeitslose an, um von den vier hauptamtlichen Aktivisten in der Bielefelder Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen zu erfahren, wo am heutigen Donnerstag wer was bewegt. Jemand aus Recklinghausen dringt erst beim neunundreißigsten Versuch durch. Über den Bielefelder Umweg erfährt er nun, daß schon lange eine Arbeitsloseninitiative direkt vor seiner Tür werkelt. Aktiv und engagiert, aber im öffentlichen Bild fast unsichtbar. Es ist in Recklinghausen wie überall in der Republik: Die fast fünf Millionen Arbeitslosen finden als kollektive Kraft nicht statt.

An der ersten bundesweiten Demonstration nahmen 1995 gerade einmal 3.500 Menschen teil. „Eine Nullnachricht“ war das damals für die Medien, erinnert sich Uwe Kantelhardt, der zu den Gründungsmitgliedern der Koordinierungsstelle zählt.

Die Idee wurde 1983 geboren. Nach der Pleite eines Druckereibetriebes in der ostwestfälischen Kleinstadt Lage-Hörste wollten die arbeitslosen GewerkschafterInnen nicht einfach sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden. Zunächst fanden sie in der Bildungsstätte der IG Medien Unterschlupf. Später folgte die Gründung eines Fördervereins und der Umzug ins DGB-Haus nach Bielefeld.

Seither dient die Initiative als Info- und Anlaufstelle, Ideenwerkstatt und Datenbank zugleich. Von vielen traditionellen Gewerkschaftern anfangs mißtrauisch beäugt, fand sie später die Unterstützung ganzer DGB-Landesbezirke und verschiedener Einzelgewerkschaften. „Eine eigenständige Interessenvertretung für Arbeitslose war für die Gewerkschaften 1983 etwas völlig Neues und Fremdes“, erinnert sich Kantelhardt. Inzwischen entstanden in einigen Einzelgewerkschaften aber Strukturen, die auch eine Beteiligung von arbeitslosen Mitgliedern möglich machen. So haben sich arbeitslose ÖTV-Mitglieder in Bielefeld im Vorfeld der jüngsten Tarifrunde mit eigenen Forderungen in die Debatte um Löhne und Arbeitszeit eingemischt. Insgesamt werden die eine Million arbeitsloser Gewerkschafter aber immer noch stiefmütterlich im DGB behandelt.

Konkret aber reicht das Engagement noch nicht einmal zur sicheren Finanzierung der Bielefelder Koordinierungsstelle. Vergangenes Jahr mußte das Team für einige Monate Kurzarbeit anmelden.

500 Mitglieder tragen die Koordinierungsstelle, die mit den kirchlichen Arbeitsloseninitiativen ebenso zusammenarbeitet wie mit freien Gruppen und Sozialhilfeinitiativen. Ohne große öffentliche Resonanz. Selbst die jährlich organisierten Proteste zum Weltspartag fanden über die Seiten der Lokalpresse hinaus kaum Beachtung. Jetzt aber scheint ein Ende der Medienabstinenz in Sicht. „Frankreich war das Signal“, glaubt Angelika Beier. „Weil dort die Fetzen geflogen sind, haben wir jetzt die große Aufmerksamkeit.“ Davon zeugen nicht zuletzt die pausenlosen Anrufe von Journalisten aus der ganzen Republik, die sich in diesen Tagen in den mit Akten und Infomaterial überladenen Büroräumen der Initiative melden.

Auch die bevorstehende Bundestagswahl tut ein übriges. Dadurch faßten auch jene wieder Hoffnung, die sich nach den folgenlosen Protesten der Vergangenheit entmutigt zurückgezogen hätten, glaubt Beier. Die Aussicht auf eine Wende in Bonn beflügele gerade in Anbetracht der neuerlichen Gesetzesverschärfungen. Wieviele heute die Arbeitsämter mit Bewerbungsunterlagen – „bin willig, überaus billig, nie krank und bereit alles zu tun, was dem Wohle des Unternehmens dient“ – zukleistern werden, steht dahin. Mit einer Massenbeteiligung rechnet man auch in Bielefeld nicht. Aber in rund 200 Städten sind Aktionen geplant, wobei mancherorts – wie in Bielefeld und Bochum – dazu aufgerufen wird, die Schlafsäcke nicht zu vergessen. Wenn der Tag „gut läuft“, kündigt der zuversichtlich gestimmte Koordinator Kantelhardt an, „werden wir das bis zur Bundestagswahl jeden Monat machen“. Auch ein „Besuch“ beim Bundespräsidenten ist im Gespräch.

Daß ausgerechnet Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, der sich rühmt, bei Rentnern und Arbeitslosen in den vergangen Jahren 98 Milliarden Mark eingespart zu haben, im Vorfeld des heutigen Protestes davor warnte, in Deutschland „französische Verhältnisse“ zu schaffen, treibt den Bielefelder Koordinatoren die Zornesröte ins Gesicht.

Kantelhardt glaubt zwar nicht, daß Arbeitslose bei den Aktionen heute „ausflippen“. Komme es aber tatsächlich dazu, liege dies „nicht daran, daß sie von uns aufgehetzt werden, sondern an der Bonner Politik, die ihnen das letzte bißchen Geld zusammenstreicht. Daher rührt die Wut im Bauch.“ Eine Politik, die den Armen in die Tasche greife und gleichzeitig den Reichen immer neue Steuergeschenke mache, könne „nicht gutgehen“. Dies ist für Kantelhardt schlicht: „Brandstiftung“.