■ Erwerbslose erobern die Straße: In Berlin bekam "der" Arbeitslose, jenes unbekannte Wesen, ein Gesicht, auch in Halle brach die Apathie auf
: Mit der Bierdose Richtung "Bastille"

Erwerbslose erobern die Straße: In Berlin bekam „der“ Arbeitslose, jenes unbekannte Wesen, ein Gesicht, auch in Halle brach die Apathie auf

Mit der Bierdose Richtung „Bastille“

Morgens um acht scheint die Welt noch in Ordnung. An den Flurwänden die Schilder „Bitte Wartenummer ziehen“, an den Zimmertüren das unergründliche System von Sachbearbeiterzuständigkeit „Bf-Ei“ oder „Kf-Ma“ und die Warnung „Aufruf abwarten. Keine Information zwischendurch!“. Nur die stattliche Polizeipräsenz stört die Normalität des Arbeitsamtes in Berlin-Kreuzberg.

Man traut ihnen einiges zu, den Menschen, die dort rauchend, strickend, vor allem aber schweigend auf den Fluren sitzen. Wie unberechenbar ist dieses kollektive Wesen, das Monat für Monat mit beängstigender Lautlosigkeit an die Fünf-Millionen-Schwelle wächst? Ist es schon infiziert von der französischen Krankheit?

Zwei Stunden später schließt das Arbeitsamt IV vorsichtshalber seine Pforten. Zu diesem Zeitpunkt haben sich eine Ecke weiter, beim Landesarbeitsamt Berlin- Brandenburg, klägliche 300 Demonstranten zum ersten „Arbeitslosenaktionstag“ versammelt. Da klingt es fast wie Hohn, als Berlins DGB-Kreisvorsitzende Ursula Schäfer ihre Rede mit dem Satz „Ich freue mich, daß ihr so zahlreich erschienen seid“ beginnt.

Doch dann wächst die Menge an, anrührend kleine Holzschilder „Ich will Arbeit statt Brot“ mischen sich mit professionell gefertigten Gewerkschaftstransparenten: „Billiglohn macht arbeitslos“. Und am Ende sind es knapp 2.000 Menschen, die sich zum ersten Mal zusammengefunden haben – weit mehr als von den Initiatoren erwartet: arbeitslose Bauarbeiter mit der Bierdose in der Hand, GewerkschafterInnen und Aktivisten des Arbeitslosenverbandes, Mittfünfziger mit Filzhütchen und junge Frauen, die sich im Schlepptau der Freundin zu ihrer ersten Demonstration getraut haben. Sie alle diktieren den Journalisten – „aus Japan, selbst aus Finnland sind sie gekommen“ – deutsche Arbeitslosenbiographien in Notizblöcke: „Eiskonditor, seit drei Jahren arbeitslos, 170 Mark Arbeitslosenhilfe im Monat“, „Chemielaborant, bis zum Meister gebracht. Dreimal umgeschult – rausgeschmissenes Geld“.

Die Erfahrung und die Wut haben alle gemeinsam. Die Idee, „daß man endlich etwas machen muß“, auch. Aber damit hört in der Vielfalt von Berufen, Generationen und politischer Verortung auch so manche Gemeinsamkeit auf. „Guck mal, der hat nicht mal mehr Geld für den Friseur“, rümpft ein Endvierziger über seinen Nebenmann mit den filzigen Rastalocken die Nase.

„200 Mark mehr“, fordert ein Flugblatt, 30-Stunden-Woche ein anderes. „1.500 Mark plus Warmmiete“ steht auf einem knallroten Zettel, „Millionäre besteuern“ heißt es daneben, „Keine Mark für den Eurofighter“ ruft es nebenan. Nur eine Parole wächst an diesem Tag zum dicksten gemeinsamen Nenner: „Kohl muß weg! Kohl muß weg!“ Na ja, grinst ein Mittdreißiger verhalten, „dann werde ich eben von Schröder entlassen.“

Und dann passiert, was die neue Qualität dieses Tages ausmacht: „Der“ Arbeitslose, dieses scheinbar unbekannte Wesen, bewegt sich in Gestalt von fast zweitausend Menschen durch die Berliner Mitte. Der DGB versucht die Menge noch brav durch abgelegene Straßen zu leiten. Doch längst ertönt der Ruf „Zum Rathaus! Zum Rathaus!“, und das klingt manchen fast wie „Zur Bastille!“. Die Demonstration entzieht sich der gewerkschaftlichen Regie, und der junge Maurer pfeift seine hasenfüßigen Kumpel an: „Wenn ihr nicht mit zum Rathaus kommt, könnt ihr nächstes Mal gleich zu Hause bleiben.“ Vorbei an aufgescheuchten Polizisten zieht die Demonstration nun hinter einem Lautsprecherwagen der Autonomen her, und als jemand ruft: „Zum Adlon! Zum Adlon!“, geht ein Grinsen auch durch die Reihen der älteren Semester. Vor dem Nobelhotel Adlon haben sich längst die Ü-Wagen der Fernsehsender postiert.

Doch dann ziehen die Demonstranten am Adlon vorbei zum Brandenburger Tor – über Berlins Prachtstraße Unter den Linden. Keine gewaltige Massendemonstration, nicht unbedingt das, was die Verhältnisse zum Tanzen bringen könnte, aber ein erstes Zeichen von Selbstbewußtsein. Der Protest hat nun einen Ort und ein Datum: Verkündung der neuesten Arbeitslosenzahlen. Nächsten Monat wieder. Vera Gaserow, Berlin

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Mit rot-weißen Kegeln hat die Polizei die Straße vor dem Arbeitsamt in der Maxim-Gorki-Straße in Halle an der Saale abgesperrt. Auf dem Fußweg stehen drei Sonnenschirme von DGB, IG Metall und DAG. Arbeitslosenberatungsstellen haben ihre Infotische dazugestellt. „Die in Bonn sitzen unter einer Glasglocke, die können die Lage im Osten nicht begreifen“, meint der DGB-Kreisvorsitzende Johannes Krause, der den Aktionstag in Halle organisiert hat.

Ein paar Dutzend Leute stehen vor den Tischen und auf der Straße. Gegenüber auf dem Gehweg gucken ein paar ältere Männer stumm herüber, Arbeiter in Sonntagskleidung, fast alle rauchen. Knapp 100 Arbeitslose protestieren – von genau 50.073 im Arbeitsamtsbezirk Halle registrierten.

„Ich habe volles Verständnis für die Proteste“, sagt Arbeitsamtsdirektor Rolf Kübler. Die Menschenmenge draußen kommentiert er sarkastisch: „Wir haben hier jeden Tag eine ,Besetzung‘.“ Die Arbeitslosenquote in und um Halle ist auf 21,3 Prozent gestiegen, in der Region Bitterfeld sind es sogar 28,5 Prozent.

DGB-Funktionär Krause klagt: „Jedesmal, wenn die neuen Zahlen kommen, ist alles entsetzt. Dann gewöhnen sich alle dran. Dann kommen die nächsten Zahlen, wieder ist alles entsetzt. Und so geht es ständig weiter.“ Daß die Leute „noch stillhalten“, halte er für ein Wunder.

Ob der Protest etwas nützt? „Na ja“, antwortet Regina Volkert, 52, „aber vom Nichtstun ändert sich ja auch nichts.“ Sie ist gelernte Rinderzüchterin, seit 1990 arbeitslos, unterbrochen nur von je einem Jahr ABM und Umschulung. Ihr Mann sucht ebenfalls seit „der Wende“ nach einer Arbeit, erfolglos. Achselzuckend sagt der 55jährige: „In meinem Alter...“

Die Apathie bricht auf, als Johannes Krause eine kurze Rede hält. „Wir müssen wieder Montagsdemos machen“, fordert ein Zwischenrufer. „Wir waren doch in Bonn, es hat nichts genutzt“, antwortet eine Frau. „Wir sind Ossis, wir können uns nicht vom Westen unterdrücken lassen“, brüllt jemand. Applaus. „Klasse gegen Klasse, nicht Ost gegen West!“ hält ein PDS-Funktionär dagegen und erntet Kopfschütteln. „Demokratisch läßt sich nichts ändern“, meint der 57jährige Bauingenieur Dietmar Klimek. Bevor nicht auch im Westen die Arbeitslosenquote bei 20 Prozent liege, tue sich nichts. „Unsere Proteste hier nützen wenig, alle lächeln nur über die doofen Arbeitslosen.“ Toralf Staud, Halle