Fünf Minuten Klospülen

„Gewisse emotionale Anspannung“: Ein Film über die russische Raumfahrt, den man nicht verpassen sollte – Maciej Drygas' „Im Zustand der Schwerelosigkeit“  ■ Von Helmut Höge

Die besten Analysen Rußlands kommen nach wie vor von polnischen Intellektuellen. Besonders ihren Filmen haftet dabei manchmal so etwas wie Rache an. Diese ist am besten süß – das heißt wehmütig. Ein gutes Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm von Maciej Drygas „Im Zustand der Schwerelosigkeit“ (1995) über die langsam in Agonie übergehende sowjetische Raumfahrt. Dazu werden eine Reihe von Kosmonauten und Wissenschaftlern interviewt. Ihre freimütigen Reden kontrastiert der Regisseur mit Bildern der Raumstation Mir, die weiter still durch das All gleitet. Das russische Raumfahrtzentrum stellte Drygas sein Filmarchiv zur Verfügung.

Ausgangspunkt des Films ist ein Raumfahrtereignis Anfang der neunziger Jahre: Der Kosmonaut Serge Krikalew, der die Erde alleine im All umkreiste, kann nicht wie geplant zurückkehren, weil die sich auflösende Sowjetunion dafür kein Geld mehr hat. Langsam gehen seine Lebensmittel oben zur Neige. „Ich fühle eine gewisse emotionale Anspannung“, wird dazu aus seinem Funkprotokoll zitiert. Der erste von Drygas interviewte Kosmonaut (K1) thematisiert bereits die Unsterblichkeit.

Der zweite Kosmonaut (K2) erklärt: „Es ist wie bei einem Bergsteiger. Wenn er es schafft, fühlt er sich anschließend menschlicher, wenn er scheitert, ist er um eine Erfahrung reicher. Das Wichtigste dabei ist aber, sich selbst überwunden und dabei etwas empfunden zu haben, was nur einigen wenigen Auserwählten zuteil wird.“ Dazu werden aus dem Filmarchiv die ersten Flug- und Raketenexperimente gezeigt, die noch häufig verunglückten. Der kluge Kosmonaut (K3) formuliert ein erstes Fazit: „Die Schwerelosigkeit fühlte ich gar nicht – es war wie in einem Traum zu fliegen!“ K4 war angesichts der Unendlichkeit des Weltraums „geschockt“. Und K5 fühlte sich im dahinsegelnden Raumschiff auf „mystische Weise“ ständig beobachtet, bei Außenarbeiten verspürte er eine Art Sog, sich abzunabeln.

Bilder von einem Ausstieg lassen seine Ergriffenheit ahnen. Der Bodenstation berichtet ein Kosmonaut: „Wir haben gerade gegessen und müssen viel furzen, es stinkt bei allen gleich. Über Sachalin habe ich ein bißchen Flüssigkeit getrunken. Unser Kommandant hat dort gedient.“

Im Schlaf kommen die Gefühle wieder

Auch Tausende von Polen „dienten“ dort – in der Verbannung. K2 kommt auf das schreckliche „Heimweh“ zu sprechen, das einen dort oben befällt: „Ziolkowski (der Begründer der russischen Raumfahrt, 1857–1935) sagte einmal: Die Menschen werden die Erde verlassen. Das ist falsch. Es geht nicht – wegen des Heimwehs. Was kann man dagegen tun? Arbeiten ist die einzige Lösung! Und in der freien Zeit? Da habe ich das Klo gespült. Das ist sehr nützlich. Fünf Minuten – und die schlechten Gedanken sind weg.“ K2: „Am besten, man vergißt dort oben alle menschlichen Gefühle – und hält sich hundertprozentig an sein Flugprogramm, aber die Gefühle kommen wieder: im Schlaf. Kein Mensch hat solche Träume wie die Kosmonauten im Weltraum.“

Die Traumdeutung ist ein wichtiger Teil der Psychoanalyse. Diese hatte in der Sowjetunion nach der Ausschaltung der Trotzkisten offiziell fast nur noch in der Person von Otto Juljewitsch Schmidt überlebt (Ehemann der pädagogischen Psychoanalytikerin Wera Schmidt, deren „Experimente“ 1968 im Westen wiederausgegraben wurden). Der Lehranalytiker Otto Schmidt war erst Herausgeber der „Psychoanalytischen Bibliothek“ und dann bis 1941 der „Großen Sowjet-Enzyklopädie“, vor allem war er jedoch Leiter der mächtigen „Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg“ und für die Polarforscher und -flieger verantwortlich, die populären Vorläufer der Kosmonauten. Zuvor, 1934, hatte man ihn selbst als Polarfahrer aus dem Eis gerettet. Diese „gescheiterte“ Expedition machte Schmidt so berühmt wie danach nur noch der erste bemannte Raumflug den Kosmonauten Juri Gagarin.

Emmanuel Lévinas sprach 1991 im Zusammenhang mit Gagarin einmal über Heldentum und Heimweh – als die zwei Seiten ein und derselben Wiederentdeckung: von „Welt und Kindheit“. Der zweite Kosmonaut (K2) in Drygas' Film erzählt: „Um die Erinnerungen, die einem vorm Einschlafen kommen, zurückzudrängen, hörst du dir die letzten Gespräche mit deiner Familie auf Tonband an. Alle vierzehn Tage können wir mit unseren Angehörigen reden. Und wenn du dann deren vertraute Stimmen noch einmal hörst und noch einmal, dann verschwinden die Erinnerungen. Man weiß, daß man gegen sie ankämpfen muß. Glücklichsein ist sicher ein starkes Gefühl – das ist aber auf langen Raumfahrten verboten: Man muß es unterdrücken.“

Archivmaterial: Ein Huhn flattert hilflos in der Schwerelosigkeit einer Kabine herum. K1 erzählt: „Die Landung ist ein kompliziertes psychologisches Problem. Während des Fluges gibt es oben keine Zigaretten, keinen Alkohol und keine Sexualität. Wir denken oft an unsere Frauen – das ist normal. Aber im Moment der Landung denke ich: Wenn alles glattgeht, werde ich erst einmal eine rauchen und einen Wodka trinken. Lieber Gott, laß es gutgehen... Und wie schön dann unten alles aussah. Die Tulpen blühten. Gleich nach der Landung schmeckte die erste Zigarette einfach wunderbar, auch der Weinbrand, sie gaben uns ein winziges Glas voll. Ein Produkt aus Erde und Sonne. Dann am dritten Tag der Besuch unserer Frauen: Noch jetzt kommen mir fast die Tränen, wenn ich davon erzähle. Das sind alles normale menschliche Gefühle. Aber wir waren auch angehalten, über den Tod zu sprechen, über die Angst vor dem Tod.“

Dazu Bilder von Übungen zur Flugvorbereitung. K4: „Sie teilten uns in drei Gruppen, jede bekam eine andere Betäubung, die, die ich bekam, unterdrückte die Schmerzempfindung – bei vollem Bewußtsein. Noch heute erinnere ich mich an alles, was sie mir antaten – ich wurde mehrmals ohnmächtig. Es war faszinierend, fast wie ein Gefühl von Unverletzbarkeit. Während dieses zweieinhalbstündigen Experiments gelangte ich vier- oder fünfmal auf die andere Seite des Lebens. Keiner der Ärzte kennt den Bewußtseinszustand nach Eintritt des Todes. Jeder von uns bemühte sich, so gut er konnte, aus dem Kollaps wieder hervorzukommen. Einige schafften es nicht, sie blieben seelische Wracks. Die Ärzte halfen uns in keiner Weise. Sie stellten auch nie eine Diagnose, sondern sagten höchstens: ,Du bist für die Tests nicht geeignet!‘ Offiziell existierten wir nicht einmal als Testpersonen. Das war sehr bequem für sie. Wir hatten alle eines gemeinsam: eine Leidenschaft für die Fliegerei und den Himmel. Die Tests waren ein Raumflugersatz. Es war wie ein Kampf: Ich schaff' das, ich werde es versuchen!“

Dazu filmte Drygas ein menschliches Wrack im Rollstuhl. „Viele Male habe ich gedacht: Ich gebe auf. Nein, ich habe dann doch weitergemacht.“ K3 fügt hinzu: „Schon als ich beschloß, Kosmonaut zu werden, versuchte ich mich mit gefährlichen Situationen vertraut zu machen. Irgendwann schien es mir, daß ich dem Tod ins Auge sehen konnte. Aber dem war nicht so. Es kam noch viel schrecklicher. Die Angst steigerte sich bis zum Verrücktwerden. Ich dachte, daß mir nur noch fünf Minuten zu leben blieben – bevor das Raumschiff auf der Erde zerschellte, so wie das von Komarow.“

Die Affen kucken entsetzlich traurig

Dazu wird Archivmaterial von dessen verunglückter Landung und vergeblicher Reanimation gezeigt. Eine Verantwortliche für die Flugkontrolle schildert die letzten Minuten. Dann Bilder von der Beerdigung.

K4 setzt seinen Bericht über die Vorbereitungen auf den Flug fort: „Trotz dieser schrecklichen Tests und meines schlechten psychischen Zustands denke ich, es war eine interessante Zeit – ein Abenteuer. Schon bei den Übungen im Simulator zum Beispiel fühlte man sich weit, weit von allen irdischen Problemen entfernt. Das regte die Phantasie an.“ Alte Archivaufnahmen von Experimenten mit Hunden und Affen, letztere kucken entsetzlich traurig. In den zwanziger Jahren hatte sich Otto Schmidt übrigens für eine künstliche Kreuzung von Mensch und Affe eingesetzt. Dann neuere Aufnahmen von dem mit Trümmern und Müll übersäten Weltraumforschungsgelände Baikonur und von einigen Fehlstarts.

K2: „Die Zeit von Gagarin – das war großartig. Die ganze Nation war begeistert: Es ist gelungen! Wir sind die ersten, wir haben gewonnen!“ K5 ergänzt: „Jetzt wollen die Leute was davon haben. Die Leute wollen, daß etwas Nützliches bei der Weltraumforschung herauskommt.“ K3: „Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.“

Es folgt ein letzter Funkdialog zwischen Serge Krikalew und einer Diensthabenden in der Bodenstation, die ihn wegen der sich verzögernden Rückkehr beruhigt: „Hauptsache, du bist gesund.“ „Ja.“ „Du mußt auf dich aufpassen und darfst die Übungen nicht vernachlässigen.“ „Das ist nicht das Problem!“ „Aber was können wir denn für dich tun?“ „Ich bin jetzt exakt acht Monate hier oben – und nicht mehr motiviert, weiterzuarbeiten.“ „Das passiert hier unten jetzt auch: Niemand fühlt sich mehr in der Lage, was zu arbeiten. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Und das Schlimmste ist: Wir haben die Talsohle noch nicht einmal erreicht.“ „Wann wird das sein?“ „Ich weiß nicht, ich weiß nur, daß alles noch viel schlimmer werden wird...“ Eine sehr junge Testperson springt mit dem Fallschirm ab: das letzte Bild.

Was für ein Film! Vergeßt alle Science-fiction, Nasa-Dialoge und Propagandastreifen von der Dasa, wie sie in Peenemünde und demnächst in eurem „Space Park“ (Bremen) gezeigt werden. Auch die Wanderausstellung über Weltraumforschung – zuletzt im Berliner Haus der Russischen Kultur – ist dagegen nur Opernkitsch.

„Im Zustand der Schwerelosigkeit“ läuft am 8. Februar, 20 Uhr, im Kino des Polnischen Kulturinstituts, Karl-Liebknecht-Str. 7