: Die Kurzen mit den roten Nasen
■ Der Hamburger Achilla Verlag hat Sherwood Andersons „Das triumphierende Ei“wiederentdeckt
Manchen Erzählungen muß man erst die Nase putzen, bevor sie alles volltropfen mit ihrem Weltschmerzgejammer und sie sich breit machen, wie jene Patentanten, deren Krankheitschroniken und Heilrezepturen noch nie jemanden interessierten. Sherwood Anderson kennt solche Besucherinnen. Er weiß, wie man sie zu weniger prätentiösen Entfremdungsfabeln verarbeitet oder zu klaren Miniaturen, die für die großen Gesten keinen Platz haben, wohl aber für den präzisen Zauber ihres eigenen Kleinbildformats. „Erzählungen sind Leute, die auf der Schwelle zum Haus meines Geistes sitzen. Es ist kalt draußen, und sie sitzen da und warten.“Und manchmal steht ein kurzer, dicht gebauter Text auf und klopft sich mit den Armen warm. Seine Nase ist rot und er hat zwei Goldzähne“.
Über 70 Jahre sollte es dauern bis diese und andere Schwellenhocker in Deutschland beachtet wurden. Der Hamburger Achilla Verlag hat sich nun mit dem Herausgeber und Übersetzer Jürgen Dierking daran gemacht, jenen amerikanischen Autor wiederzuentdecken, dem die literarische Moderne Amerikas immerhin soviel verdankt, daß sich Faulkner einst tief verbeugte: „Ich glaube, daß Sherwood Anderson der Vater all meiner Arbeiten ist, der Vater der Werke von Hemingway, Fitzgerald, von uns allen.“Die als sechsbändig geplante neue Hamburger Werkausgabe widmet sich zunächst mit Das triumphierende Ei den Erzählungen. Darunter finden sich nicht nur vorsichtige Stilexperimente und semantische Jonglagen, bei denen seine Brieffreundin Gertrude Stein und ihr Three Lives Pate gestanden hat, sondern auch zahlreiche Binnenporträts moderner Idyllensucher. Die sind allesamt einsam, verwirrt vom technischen Tempo, das die Langsamkeit ihres Aufwachens täglich überrollt und frustriert von dem Leben unter dem Gleichtakt der Stechuhren. Wenn sie nicht am Lärm amerikanischer Großstädte und ihrer massenhaften Einsamkeit nagen, kauen sie in den Kleinstädten Ohios als eine Art Acker-Bohemiens an den vertrauten Halmen alter Tage. Dann kuscheln sie sich ins bukolische Dekor und schauen Mädchen mit kräftigen Armen bei der Feldarbeit unter die Röcke.
Und dann geht es ans dezente Verzweifeln. Vor allem an der bitteren Wirklichkeit des industriellen Zeitalters und des amerikanischen Traums, der es bei all seinem vollmundigen Optimismus und Fortschrittsglauben nicht fertiggebracht hat, sein Versprechen eines kollektiven Glücks einzulösen.
Wem diese Seelenlandschaften doch zuviel Trauerrand tragen, der sollte weiterblättern bis zur titelinitiierenden Prosa. Denn „Das Ei“feiert als Versuchsobjekt eines Gastwirts und Freundes mißgebildeten Geflügels in wunderbaren Slapsticks Triumphe über alle prahlerischen Versuche, es per Zaubertrick in eine Flasche zu befördern. Eine leichthändige Fabel auf menschliche Quadraturversuche allen Urwuchses, die ihre Ironie in gleichen Teilen Naturschmachtern wie Technikeuphorikern um die Ohren haut. Und so zählt „Das Ei“sicher zu der interessantesten Abteilung auf der Anderson-Schwelle: den Kurzen, Dichten, mit den Goldzähnen und roten Nasen.
Birgit Glombitza
Sherwood Anderson, „Das triumphierende Ei“, Achilla, Hamburg 1997, Herausgegeben und übersetzt von Jürgen Dierking, 278 S.
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