Fronten übers Meer

■ Seine größte Leserschaft lebte im Osten: Der isländische Literaturnobelpreisträger Halldor Laxness ist mit 95 Jahren gestorben

In Reykjavik versammelten sich auf die Todesnachricht hin zahlreiche Menschen vor dem Pflegeheim, in dem Halldór Laxness untergebracht war. Islands Staatspräsident Olafur Ragnar Gudmundsson kündigte eine Erklärung an. Staatstrauer: Immerhin ist Halldór Laxness, der am Montag früh fast 96jährig starb, der einzige Literaturnobelpreisträger, den das kleine Land am Rand Europas hervorgebracht hat. Doch nicht nur das: Drei Jahre vor dem Nobelpreis 1955 erhielt er den Weltfriedenspreis der sozialistischen Länder. Hier hatte er auch die größte Leserschaft außerhalb Islands.

Geboren wurde Halldór Laxness am 23. April 1902 unter dem Namen Gudjónsson als Sohn eines Straßenarbeiters. Laxness nannte er sich nach dem Bauernhof, den sein Vater erwarb. Auf ausgedehnten Europareisen in den 20er Jahren lernte er in Deutschland den Expressionismus kennen und traf in Frankreich mit den Surrealisten zusammen. In seinem Schreiben aber blieb er „isländisch“ und fühlte sich besonders von den Sagen seines Volkes angezogen.

In den 30er Jahren galt er als engagierter Sozialist und als ein wichtiger Vertreter des sozialen Realismus. Stets stehen Menschen aus der unteren Schicht im Mittelpunkt seines Interesses, etwa das Bauernmädchen „Ugla“ in „Atomstation“, der Pflegesohn Álfgrimur in „Das Fischkonzert“ oder der von den Eltern verstoßene Ólafur Kárason im vierteiligen Epos „Weltlicht“: Menschen, die aus einer fernen Vergangenheit zu stammen scheinen und doch seltsam gegenwärtig wirken. „Ich bin Taoist gewesen, später wurde ich auch Expressionist, Surrealist, Freudianer, schließlich marxistischer Mitläufer, obwohl ich Marx nie gelesen habe, weil ich eine Überempfindlichkeit gegen deutsche Philosophie hatte“, sagte Laxness in einem Interview.

Nach einer Rußlandreise distanzierte er sich vom Kommunismus, ohne aber sein soziales Engagement aufzugeben, und schrieb jene Romane, die seinen Weltruhm begründeten: die Trilogie „Islandglocke“ (1943–1946) und „Atomstation“ (1952), in dem es um die Proteste gegen die Errichtung eines amerikanischen Atomstützpunktes geht. „Der Kampf geht um zwei Grundsätze“, heißt es da. „Die Front läuft durch alle Länder, alle Meere, alle Lufträume: aber vor allem mitten durch unser Bewußtsein. Die Welt ist eine einzige Atomstation.“

Die Popularität des widersprüchlichen Erzählers, der sich schließlich zum Katholizismus bekannte, war in seiner Heimat ungebrochen, obwohl er seit den 70er Jahren kaum noch in Erscheinung trat und an Altersdemenz litt. 1989 verfilmte seine Tochter Gudny Halldórsdottir seinen vielleicht schönsten Roman, das Alterswerk „Seelsorge am Gletscher“. Jörg Magenau