Totenbuch der Zivilisation

■ Arbeitstier Henry Rollins ist auch Verleger: Seine Schriften weisen den Musiker aus als Spezialisten für den Niedergang der Menschheit

Sein Name ist Rollins. Henry Rollins. Und wenn er „Arbeit“ sagt, dann ist das auch so gemeint: Nur einen Tag pro Woche arbeitet das Muskelpaket nicht an seinem Panzerkörper, noch seltener arbeitet er nicht an seinen Songs, und wenn er auf der Bühne steht, gibt er 150 Prozent. Zufrieden ist der Workaholic bei seinen Konzerten erst, wenn auch der letzte im Saal verstanden hat, daß das Leben da draußen die Hölle und der einzige Weg des Überlebens Arbeit heißt. Obendrein schreibt und publiziert er noch im Eigenverlag, was der Bizeps hält.

Da verwundert es schon, beim Interview von einem Rollins-Urlaub unter südlicher Sonne zu hören. Sollte sich nach 36 harten Jahren voll harter Arbeit auf diesem harten Planeten ein Stück Normalität in das Leben des manischen Survival-Preachers geschmuggelt haben? Legt er am Ende gar zwischendurch auch mal die durchtrainierten Füße hoch und ißt ein Eis? Nicht wirklich, denn Henry Rollins' Urlaub war natürlich das Ergebnis von sehr viel mehr Arbeit, als man sich als gewöhnlicher Sterblicher zwischen Tür und Angel so vorstellen kann: „Ich reise so viel, daß ich schnell eine halbe Million Bonusmeilen zusammen hatte. Ich fragte mich also, wo auf dieser Welt ich eigentlich noch nicht war: Kenia!“, klärt ein gesprächiger Rollins das Rätsel. Und fährt fort: „Das war eine unglaubliche Erfahrung, keinen Ort habe ich bisher so intensiv empfunden. Dort steht die Wiege der Menschheit – und man kann es spüren.“

Reichlich ungewohnte Töne für den Mann, der sich sein Motto „Search & Destroy“ unübersehbar in den Rücken einschreiben hat lassen und der sich bisher als ausgewiesener Spezialist für den Niedergang der Menschheit einen Namen gemacht hat. Nachzulesen ist das in den jetzt auch in Deutschland erhältlichen Bänden „The First Five“ und „See A Grown Man Cry/ Now Watch Him Die“, die vergriffenes Material des Musikers zwischen zwei Buchdeckeln neu versammeln.

Es genügt allerdings, blind eine der insgesamt 740 Seiten aufzuschlagen, um zu wissen, wohin der Wind die Antwort auf die Frage nach dem Sinn, dem Universum und dem ganzen Rest so trägt: in das große schwarze Loch der Depression. Tour-Tagebücher, „hardboiled poetry“ und Erinnerungen kreisen um die zentralen Begriffe „Schmerz“, „Tod“, „Krieg“, „Feuer“, „Straße“, „Wahrheit“, „Leere“, „Nacht“, ohne sich groß um den Rest der Welt zu kümmern. Bevor jemand anderes als Rollins selbst mit vollem Namen in seinen Büchern vorkommt, muß er schon ziemlich tot sein. Katherine Arnold beispielsweise. Die 28jährige kaufte sich am 1. Oktober 1984 in einem Supermarkt in Lincoln, Nebraska, eine Knarre und schoß sich auf dem Parkplatz das Gehirn weg. Was aber macht Henry Rollins, der einen Tag später dort vorbeikommt? Genau: Er schaut nach, ob noch Blut an der Wand klebt, findet ein Stück Hirngewebe und nimmt es mit zurück nach L.A., wo sich ein paar Jahre später ein ganzes Zimmer mit handfesten Überresten Verstorbener füllt. Fragt sich natürlich, wieso ein eigentlich dynamisch und erfolgreicher Mensch so besessen vom Tod ist. „Das liegt daran, daß ich in Los Angeles lebe – hier geht die Zivilisation zugrunde“, glaubt Rollins. „Aber meine Einstellung hat sich in den letzten Jahren geändert. Man muß hier und jetzt etwas gegen den Niedergang tun.“

Derzeit bearbeitet der Mann, der „Apocalypse Now“ zu seinen Lieblingsfilmen zählt, in seinem Londoner Verlag 2.13.61 die Texte eines schreibenden Vietnamveteranen. Dschungelkrieg als Metapher fürs Leben, das ergibt zusätzlich Sinn, wenn man weiß, wem die Bücher gewidmet sind: Joe Cole, 10.4.1961–19.12.1991, nach Rollins' Angaben dessen einziger Freund. Auch der Titel des nächsten Werks läßt nicht gerade auf baldige Stimmungsänderung hoffen: „Solipsist“. Gunnar Lützow

Henry Rollins: „The First Five“, „See A Grown Man Cry/Now Watch Him Die“, 49,80 DM und 44 DM (2.13.61 Publications, L.A. 1997). Erhältlich über Medium Mallorder, Rosenstraße 5–6, 48143 Münster, Tel. (0251) 46000