Viele Einfälle, ganz auffällig

■ Zarte Ladies und wilde Freaks aus Hamburg, Bremen und Hannover quasseln beim traditionellen Poetry Slam im Lagerhaus

Peter Kraus, Schwarm unserer Mütter, grinst krause von einem Plakat. Günther Kahrs grinst auch. Das eigenwillige Publikumsgemisch, ein Dutzend Mädchen – potentielle Abiturentinnen – und uneinordbare Einzelgänger, grinsen dazu. „Es ist nicht warten auf Godot, es ist poetry slam.“Und der ist jetzt auch schon alt genug, um sich selber zu persiflieren. Raimund Samson aus Hamburg witzelt über Kollegen, bei denen „die Adjektive sprießen wie das Gras im Frühling.“Hier mutmaßt einer schleichende Verdorbenheit durch die allgewaltigen Gesetze des Marktes. „Wo der Erfolg winkt, steht der Kommerz stramm.“Und dennoch sind die drei Stunden gewolltes Durcheinander im Lagerhaus, moderiert vom chronischen Bürgermeisterkandidaten und Meister-Propper-Sektengründer Günther Kahrs, die seltsamste, ungefügigste, schillerndste, liebenswerteste Kulturblüte, die in Bremen derzeit treibt – völlig ungrasmäßig. Hier ist Platz für allgemein vertraute Alkoholerlebnisse, poetisch, aber nicht lyrikbeflissen verhunzt. Hier darf sich aber auch das rabiat aufbrechende Formbewußtsein einer jungen Frau, die wohl gerade (zu viel?) Artaud und Celan las und Metaphern mal mit Erfolg, mal ohne übt, breit machen – völlig unbreit.

Raimund Samson rapt lustig seine Vision von der Slam-Infizierung der ganzen Gesellschaft. „Beim HSV hat sich eine erste Slam-Mannschaft gebildet“. Gospel-Chöre mit Jesus-Slams schießen ins Kraut. Da können Gegenveranstaltungen mit Teufeln nicht ausbleiben. Schramm-schramm macht Samsons kleine Spielzeugplastikgitarre. Aus dem Hintergrund wirft der Beat-Generation-Heilige Allen Ginsberg kontrastbildend ein: „Straßenpflaster, animalische Schreie, Sie sprang vom Dach.“Der Dokumentarfilm über die Väter des Slamens läuft stumm, doch er hat Untertitel.

Conny aus Hamburg, schönes Gesicht mit einem Kinn, so lang, daß es den ganzen Hals verdeckt, verkündet mit der starken, angeknacksten Vitalität eines alkohol-euphorisierten Alkoholgeschädigten (oder muß es heißen alkoholgeschädigten Alkoholeuphorisierten) kräftig und bedächtig: „Gibts noch was zu feiern, wenn der Bull-shit dampft? Früher hatte ich noch ein feeling. Da war mir noch nicht schlecht“, fischt einen neuen Spickzettel aus der Penny-Platiktüte, „das kann ich jetzt nicht lesen – ... Ich pirsche an der Mauer des Stadtparkwaldes, da war ich durchgeknallt – das ist hier durchgestrichen, das verrate ich Euch nicht...“Das Publikum lacht. Eigentlich sollte es weinen, bewundern, sich freuen über die ungeahnte Kraft mitten im zerknautschten Leben. Dana aus Hannover: „Moral pinkelt mit Wollust aus dem 16. Stock.“Dahinter grinst wieder Ginsberg aus der Leinwand heraus: „Du stirbst, wenn du stirbst.“Ein Mensch im Publikum zieht sich aus. Er will einer fremden, schönen, blonden Lady seine wüste Narbe am Knie zeigen. Die erzählt von ihrem geschiedenen Mann, der einen Hirntumor hat, vielleicht auch Aids. Kinder konnte er auch keine kriegen; war natürlich eine Tragödie für die junge Frau, damals. Jetzt sitzt sie hier, hört Conny: „Mir fällt nichts ein, fällt mir auf. Die einen haben immer Druck, die anderen nur 'nen Eierstock.“Kahrs grinst zweifach, einmal als Meister Propper vom T-Shirt, einmal als Pappfigur aus einem Fischernetz, vor seinem Gesicht das Schild: „Alles nur Spaß.“Dann eine Country-Version von Leonard Cohen. Und sanft pendelt dazu eine rote Federboa von der Decke. Ginsberg aus dem off: „Moloch. Alptraum. Ich erwarte ihn.“Dann singt noch einmal das beliebte Bremer Trio: „Wir stürzen auf die Fünfzig zu, yeahyeah, juhujuhu.“Das yeahyeah ist stark gedacht, aber dünn gesäuselt. Die üblichen Kriterien von Qualität vergißt man an diesem Ort schnell. Als Entschädigung gibt es wunderbare Kontraste, Stilbrüche und immer wieder den genialen Vers zwischendurch. „Es ist Donnerstag“, verrät ein Schild. bk