Endstation Melancholie

■ On the road – auf der Suche nach Amerika. Zwei Reisen, zwei Autoren und die Leidenschaft für das Unterwegssein

„In jener Nacht, als ich dalag und mich fragte, ob ich schlafen würde oder explodieren, kam statt dessen die Idee. Ein Mensch, der es nicht fertigbrachte, daß die Dinge richtig liefen, konnte wenigstens selbst laufen.“

William Least Heat Moon (Der jüngste der Hitzemonde), seines Zeichens eine Mischung aus Sioux und Brite – vor acht Generationen –, macht sich auf den Weg, sein Land zu erkunden. Er ist 38, seine Frau hat einen Freund, sein Job als Englischlehrer ist den Mittelkürzungen zum Opfer gefallen. Sein Ziel ist, einsam die USA zu umrunden, auf blauen Straßen. Nebenstraßen waren früher auf den Karten blau eingezeichnet. Heute nicht mehr, aber in der Dämmerung leuchten sie noch manchmal so.

Orte mit Namen wie „Why“ oder „Nameless“ ziehen ihn magisch an. Den Menschen, denen er begegnet, fällt die Melancholie seiner Ausstrahlung auf, sie erzählen ihm von sich: Ladenbesitzer, Kellnerinnen, Fabrikarbeiter. Nichts Spektakuläres, Leben am Rande. Die Reise ist ein Abgesang auf Small Town America – ein zeitloser Abgesang. Melancholie als Lebenshaltung. Ein schönes Buch.

Eine andere Art der Reise unternimmt V.S. Naipaul durch die Südstaaten. Der „Citoyen der Weltliteratur“, wie ihn die schweizerische Kulturzeitschrift du nennt, fährt nicht einfach herum. Er will sich ein konkretes Bild machen, will Rückschlüsse ziehen. Ausgangspunkt seiner Reise ist die Bemerkung eines Bekannten – in New York –, er würde, wenn er seinen Job verlöre, nach Hause zu seiner Mutter gehen. Der Mann kommt aus dem Süden. Naipaul, geboren auf Trinidad als Sohn indischer Eltern, in jungen Jahren nach England ausgewandert, steht einer solchen Aussage verblüfft und fasziniert gegenüber. Sie gibt ihm zu denken. Er beschließt, sich die Gegend näher anzusehen.

Naipauls Methode, eine Gegend kennenzulernen, ist das zielgerichtete Gespräch. Er will etwas herausfinden, das sein Verständnis erhöht. Unterhaltungen und Reflexionen reihen sich aneinander, Landschaft kommt nur am Rande vor. Beim Süden denkt er in erster Linie an die Rassenproblematik, endet aber bei einem ganz anderen Süden, dem „der Ordnung und des Glaubens, der Musik und der Melancholie“.

Es schließt sich der Kreis zu Least Heat Moon. Die Melancholie liegt überall. Martin Hager

William Least Heat Moon: „Blue Highways. Eine Reise in Amerika“. Suhrkamp 1989, 584 Seiten, 19,80 DM.

V.S. Naipaul: „In den alten Sklavenstaaten. Eine Reise“. dtv 1994, 469 Seiten, 19,90 DM.