Stämmige Frauen in Tüchern

■ Um ein "Wilder unter Wilden" zu werden, floh Paul Gauguin in die Südsee - und konnte damit auch seine Geldprobleme lösen. Eine Stuttgarter Ausstellung zum 150. Geburtstag des Malers

Der Mythos vom malenden Wilden machte Quote. Voller Neid mußten Paul Gauguins Künstlerkollegen mit ansehen, wie er mit seinen Bildern und Skulpturen von der Südseeinsel Tahiti ein Publikum fand, dem bis dahin selbst der Naturalismus der Impressionisten nicht ganz geheuer war. Gauguin konnte 1891 seine Reise ins Südseeparadies nur deshalb beruhigt antreten, weil er wußte, daß es in Paris Kunstkritiker und Intellektuelle gab, die wie Charles Morice und Stéphane Mallarmé, seinen Weg der Abnabelung vom Impressionismus aufmerksam verfolgt hatten und weiter verfolgen würden.

Die Staatsgalerie Stuttgart, die zwei Hauptwerke aus der Zeit kurz vor und während der ersten Reise nach Tahiti besitzt – „Bildnis Aline Gauguin“ und „Wohin gehst du?“ –, nimmt Gauguins 150. Geburtstag zum Anlaß, mit einer hundert Werke umfassenden Ausstellung die Entstehung der Künstlerlegende Gauguin in der Zeit zwischen 1887 und 1892 nachzuzeichnen. Das Leben in exotischer Umgebung kannte Gauguin seit seiner frühesten Kindheit. Er ist ein Jahr alt, als die Familie nach Peru auswandert, und sieben Jahre, als er nach dem Tod des Vaters wieder nach Frankreich zurückkehrt. Bei seinem Militärdienst auf hoher See kommt er wieder nach Südamerika. Zur gleichen Zeit, als er in Paris den Beruf des Börsenmaklers ergreift, entdeckt er die impressionistische Malerei. Er freundet sich mit Pissarro an und stellt ab 1879 zusammen mit den Impressionisten aus. Nach der endgültigen Aufgabe seines Berufs bekommt er zunehmend Probleme, seine Familie zu versorgen.

Je deutlicher Gauguin ein bildnerisches Ziel vor Augen hat, um so unerträglicher werden ihm die familiären und künstlerischen Bindungen, um so mehr erscheint ihm die Flucht aus der Zivilisation als einziger Ausweg. Von einer mehrmonatigen Reise auf die Antilleninsel Martinique kehrt er 1887 mit einem Dutzend Gemälden zurück. Im Bild „Tropische Landschaft“, mit dem die Stuttgarter Ausstellung beginnt, teilt er seine Vision eines Lebens in paradiesischer Abgeschiedenheit in einem zu höchster Malkultur gereiften Spätimpressionismus mit.

Eine für Stuttgart getroffene Auswahl von Werken, die noch in der Bretagne entstanden, läßt erkennen, daß Gauguin schon einige Jahre vor seiner Abreise nach Tahiti die Weichen für seine zukünftige malerische Entwicklung gestellt hatte. Die stark vereinfachte Naturwirklichkeit, eingepaßt in klar umrandete Farbflächen, nimmt durch einen gleichmäßig gestrichelten Farbauftrag den Charakter eines Webteppichs an. Gauguin selbst nannte sein Ziel eine „synthetische Malerei“, die über „künstlerische Intelligenz und ein künstlerisches Wissen“ verfügen müsse, um in der äußeren Wirklichkeit konkreter Dinge die erkannte innere Wirklichkeit zum Vorschein zu bringen.

„Der Flötenspieler auf den Klippen“ verschwindet im Grün bemooster Felskaskaden. Im Stillleben „Fête Gloanec“ drängen sich amorphe Formen und das leuchtende Rot der Tischplatte zwischen die wenigen erkennbaren Früchte und Blumen. In der Malerei scheint alles vorbereitet für den Aufbruch in die ersehnte primitive Welt.

An seine Frau Mette schreibt Gauguin: „Der Tag wird kommen (und vielleicht schon bald), daß ich in die Wälder eines ozeanischen Eilandes entfliehe, um für einen ekstatischen Rausch, für die Stille und die Kunst zu leben. Umgeben von einer neuen Familie, weit weg von diesem europäischen Kampf ums Geld. Dort in Tahiti werde ich in der wunderbaren Stille der tropischen Nächte die sanft murmelnde Musik meines Herzschlags hören können, in liebender Harmonie mit den rätselhaften Geschöpfen um mich.“

Unter dem Eindruck nachgebauter Eingeborenendörfer auf der Pariser Weltausstellung 1889 ist er fest entschlossen, als „Wilder unter Wilden“ zu leben. Doch was ihn bei seiner Ankunft in Papeete im Juni 1891 erwartet, steht in scharfem Widerspruch zu den Reklamebildern der französischen Kolonialbehörde. Enttäuscht vom langweiligen Leben in der französisch geprägten Inselhauptstadt, flieht er aufs Land. Dort lebt er in einem kleinen Haus, zusammen mit der jungen Tehamana, die ihn Tag und Nacht als Geliebte, Modell und Haushälterin umsorgt.

Es entstehen die ersten Gemälde, in denen Gauguin die dörfliche Welt schildert, wie er sie vor Augen hat, ohne die Brüche in Lebensstil und Kultur der Einheimischen auszusparen. Den Malstil seiner bretonische Landschaften behält er im Atelier unter Palmen bei. Erst unter dem Eindruck eines fünfzig Jahre alten Buches, in dem ein früherer Konsul von Tahiti von den ozeanischen Bräuchen und Mythen erzählt, beginnt sich Gauguins Malerei noch einmal von Grund auf zu wandeln. Er ist fasziniert vom Reichtum einer Kultur, die sich der eigenen Anschauung nur noch in Bruchstücken zeigt.

Stämmige Frauen mit immer den gleichen verschlossenen Gesichtern beherrschen als einzelne oder Paare die Bilder. Ihre von bunten Tüchern umwickelten goldbraunen Körper sind mit den plakativ gemalten landschaftlichen Hintergründen flächig verzahnt. „Parau api“ (Welche Neuigkeiten?) und „Wohin gehst du?“ sind suggestive Bildtitel, mit denen der Maler auf das Geheimnis weist, das ihm verborgen bleibt. Zur gleichen Zeit verfaßt Gauguin seinen Reisebericht „Noa-Noa“, in dem sich historisches Wissen, eigene Anschauung und Fiktion zu Literatur verbinden. Die zehn Holzschnitte zu „Noa-Noa“ sind Neuformulierungen der Themen seiner Ölbilder, in denen sich das Bedrohliche und Geheimnisvolle der Figuren verselbständigt.

Überraschende Ergebnisse beim Experimentieren mit unkonventionellen Methoden bei der Bearbeitung des Druckstocks und beim Handabzug inspirieren ihn zu ungewöhnlichen Bildideen. Das Genrehafte weicht in der Druckgraphik mehr und mehr einer aus fremder Lektüre, eigenem Erleben und Visionen konstruierten Welt der Götter und Totengeister. Diesen Aspekt unterstreicht die Ausstellung durch einige authentische Skulpturen von verschiedenen Südseeinseln und einen Beitrag der Ethnologin Ingrid Heermann vom Stuttgarter Lindenmuseum. Hier wird nachgewiesen, daß Gauguin keine Skrupel hatte, kulturelle Elemente verschiedener Herkunft in seine suggestiven Darstellungen des tahitianischen Mythos zu integrieren.

Gauguin hatte auch als malender „Wilder“ den Kontakt mit Paris nie abreißen lassen. Eine Krankheit zwang ihn 1893 zur Rückkehr. Das erhoffte Echo der französischen Kunstkritik bei den schnell aufeinanderfolgenden Ausstellungen trat ein. Was die einen als „Religion der Freude“ feierten, werteten die anderen als „Überspanntheit“ und „Ignoranz“. Mit zwei Gemälden – beide Male Tahitianerinnen in stiller Vertrautheit – weist die Stuttgarter Ausstellung auf die letzte Reise Gauguins in die Südsee, die nach langem Siechtum des Künstlers mit seinem Tod 1903 auf den Marquesas endete. Es sind melancholische Bilder, die bezeugen, daß Paul Gauguin auf die Fragen, die er als Bildtitel den Frauen in den Mund legte, nie eine Antwort bekommen hat. Gabriele Hoffmann

Die nur in Stuttgart gezeigte Ausstellung ist bis zum 1.Juni zu sehen