Vom Vorsprung leben

Gurus, Kolporteure, Eckensteher. Exkursion in den Naturschutzpark der Intellektuellen  ■ Von Erhard Schütz

Unter den Möglichkeiten, mit der Wirklichkeit Schritt zu halten, die Odo Marquard katalogisiert hat: Schnelligkeit, Langsamkeit und Gemeinsamkeit, ist zweifellos erstere, die für ihn ineffizienteste, den Intellektuellen vorbehalten. Sie sind die Zappelphilippe am Tisch der Gesellschaft. Darum muß es stets so kommen: das Geschirr kaputt, der Hunger groß, Mama weint, und Papa haut.

Sieht man genauer hin, ist es aber andersherum: Worin immer Intellektuelle gegenwärtig sich unterscheiden wollen, gewiß ist ihnen Nostalgie gemeinsam. Ihr Kuhreigen heißt „J'accuse“, und die Weimarer Republik ist ihr Auf- und Abtriebsfest. Wenn sie im fremden Heute daran erinnert werden – und alles erinnert sie daran –, werden sie melancholisch.

Wie war es ehedem in Weimar so bequem. Die zwanziger Jahre sind, was in ihnen Egon Erwin Kisch über Weimar spöttelte, unser „Naturschutzpark der Geistigkeit“. Ach, die emphatisch angerufenen Namen: Walter Benjamin oder Ernst Bloch, dazu die andere Seite der „radical classics“, Carl Schmitt und Ernst Jünger. (Georg Lukács, von dessen Geschichte und Klassenbewußtsein ja alle gezehrt haben, wird meist ausgeklammert, ihre komparativen Exegesen, postume Exekutionen oder Exkulpationen sind kaum noch zu zählen). Was den einen der „Röhm-Putsch“, waren den anderen die stalinistischen „Säuberungen“. Nie sind die Fehlurteile der Intellektuellen hellsichtiger gewesen und grandioser schuldhaft geworden.

Indes: Keiner von diesen hätte sich selbst einen Intellektuellen genannt. Und: Kaum jemand damals hätte ihre Namen zuerst genannt, wenn es um intellektuelle Prominenz gegangen wäre. Präsent waren dagegen Geistige oder Mandarine, Seelen- und Lebensführer, Deuter- und Denkerdichter. Um die Vielfalt in diesem Feld zu demonstrieren, könnte man seitenlang fortsetzen, was hier nur willkürlich daherkommen kann: Richard Bie, Rudolf Binding, Hans Blüher, Rudolf Borchardt, Paul Fechter, Otto Flake, Hans Grimm, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Kurt Hiller, Ricarda Huch, Edgar Julius Jung, Karl Kraus, Graf Hermann Keyserling, Theodor Lessing, Valeriu Marcu, Arthur Moeller van den Bruck, Carl von Ossietzky, Karl Radek, Oskar A. H. Schmitz, Werner Sombart, Oswald Spengler, Wilhelm Stapel, Frank Thiess, Ernst Toller, Jakob Wassermann, Theodor Wolff, Hans Zehrer oder Leopold Ziegler.

Unter solchen Namen hätte man die Angefragten, die Manifestanten, Bedenkenträger und Weltbilderklärer, wie heute Drewermann, Dönhoff, Grass, Habermas, Harprecht, Jens, Rosh, Safranski, Siedler, Sloterdijk, Wolf e tutti quanti, gefunden. Diejenigen hingegen, die uns als die Intellektuellen von damals vor Augen gestellt werden, Benjamin bis Jünger, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Siegfried Kracauer, Robert Musil, Erik Reger, Ernst Robert Curtius, Karl Mannheim, Klaus Mann, selbst Goebbels oder Kurella, Becher oder Johst, das waren eher die Goetz' oder Schlingensiefs, Grünbeins, Hüsers, Bolz', Bahners oder Polityckis von damals. Der einzige Repräsentant des Intellektuellen für alle Seiten war wohl Heinrich Mann – auch, weil sein Bruder ihn dazu gemacht hatte. Dementsprechend war er Gegenstand im allgemeinen Spottkonsens der jung- schneidigen Intellektuellen, wie Thomas, zu dessen öffentlicher Störung sich die Extreme gerne trafen. Was immer die kalten Denker und scharfen Formulierer damals sein wollten – Intellektuelle jedenfalls nicht. Gerade darum machte der Begriff Karriere, weil er – bis auf eine Mittellage der freischwebenden Intelligenz, die sich freilich nicht weniger dezidiert und aggressiv zu äußern verstand – der nahezu einzige Konsensbegriff der Extreme war – im Negativen.

Brecht hat dafür das noch einmal herabsetzende „Tui“ geprägt: „Und alle Tuis nannten einander Tuis in der schlimmsten Bedeutung des Wortes.“ Der Tui Brecht tat das auch, wobei er 1931 zugleich das Berufsgeheimnis ausplauderte: „Unsere Intellektuellen, die nur weiterkommen, indem sie sich, jeder für sich, von der Masse trennen, erzielen keinen Fortschritt, sondern leben nur vom Vorsprung.“ Brecht hat von seinem Vorsprung im Team ganz gut gelebt.

Wer heute emphatisch auf die damalige Intellektuellenrepublik verweist (und das tut auch, wer in ihr die Wurzel alles intellektuellen Übels geißelt), der ist ein Nostalgiker des Wunsches nach mehr als nur Vorsprung – und damit vielleicht erfolgreich (etwa so wie die deutsche Wirtschaft mit der Autoindustrie), aber zukunftsweisend ist er nicht.

„Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende.“ Mit dem Satz von Erich Kästners Intellektuellen Fabian kann man die Problematik der Weimarer Intellektuellen markieren, nämlich die Wahrnehmung einer Krise der Moderne als Krise vor allem der Intellektuellen, ihres Status und ihrer Mittel. Freilich war der Begriff der Krise dabei selbst noch ein Trostwort. Ob nun aus dem lebensphilsophischen oder marxistischen Umfeld stammend – Krise schien von sich auf Eindeutigkeit zu drängen –, sei es Untergang, sei es Erneuerung.

Die Permanenz der Krise aber, die Grundsätzlichkeit von Kontingenz und Ambivalenz, das war am wenigsten intellektuell hinnehmbar, gar real auszuhalten. Sieht man nun auf den intellektuellen Kurs der Weimarer Republik, dorthin, wo er alltäglich aufgezeichnet wurde, aufs Feuilleton, dann wird deutlich, daß die Intellektuellen nicht nur die reale Krisenentwicklung von Wirtschaft und Politik registrierten, sondern auch daran mitschrieben. Was zuvor als faszinierende Oberfläche wahrgenommen wurde, Ausdruck von Bezauberung und Verwandlung, das wird bald als Täuschung, Betrug und Unechtheit geschmäht. Mobilitätsfaszination schlägt um in Unbehaustheitsängste. Hiob wird zur Identifikationsfigur nicht nur bei Döblin oder Roth. Der ehedem so herrlich glänzende Asphalt wird zur fiebernden Haut des kranken Berlin.

Nicht zum wenigsten findet man damals einen Gestus, der zum Genpool der Intellektuellen gehört, der des letzten Zeugen fürs Jüngstvergangene, des Flaschenpostlers oder verlorenen Postens. Das ist inzwischen eine sichere Bank: In der Marketinggesellschaft sind Verlustanzeigen die Musterkarten für zukünftige Nostalgietrends. Was damals Positionen wirklicher Verzweiflung waren, ist heute Geschäftsgrundlage.

Der Satz Brechts, daß der Intellektuelle vom Vorsprung lebe, steht im „Dreigroschenprozeß“, einem der intellektuellen Schlüsseltexte sich medialisierender Gesellschaft. Was Brecht selbst nach Kräften theoretisch und praktisch übte, die intellektuelle Kompetenz in der muldimedialisierten Gesellschaft, das ist eine weitere Gemeinsamkeit der damaligen Intellektuellen jenseits politischer, ästhetischer oder kapazitärer Differenzen. Man bewegt sich zunehmend versierter zwischen den Medien. Wer das nicht reaktiv, sondern reflexiv tut, ist ein Intellektueller. Selbstverständlich setzt sich der bedingungslos flexible Typus in Szene, und selbstverständlich finden wir Medienstars. Die Formen der intellektuellen Autorenschaft spektralisieren sich wie die des Schreibens und seiner Medien. Aber darin kann man qualitative Differenzen markieren. Gert Mattenklott hat zum Jubiläum von „J'accuse“ Emile Zola als neuen intellektuellen Typus dargestellt, der gerade nicht von der Allroundkompetenz des „Geistigen“ und im metaphysisch legitimierten Vollmundschaftsgericht her plädierte, sondern gestützt auf die Ergebnisse seiner professionellen Fähigkeiten zur sachlichen Recherche. Dies Bild mag zum Gutteil wunschhaft sein, aber es führt zu jenen Intellektuellen der Weimarer Republik, die den Rückversicherungsagenturen meist nicht einfallen, etwa Siegfried Kracauer oder Erik Reger. Wenn man sich Trost über die Miseren der Profession holen will, kann man ja versuchen, nicht gleich unter der Säkularmonstranz Benjamin und Weihrauchampel Bloch zu beten, sondern sich einmal bei ganz profanen Fachleuten umsehen, die vom Schreiben für die Zeitung leben mußten (und wollten). Dann jedenfalls bekommt man einen Typus vor Augen, auf den es auch heute eher zu achten gälte. Statt sich mit den allfälligen wechselseitigen Anwürfen wahlweise des unpassenden Schweigens zur Tagesordnung der Gewissensnation oder des permanenten Redens, Meinens und Gestikulierens als Produkt von Nichtwissen, -zuhören und -schreibenkönnen zu paralysieren, sollte man näher auf die hinsehen, die von einer Meinungsäußerung nicht gleich erwarten, daß sie die Raben vertreibt und der Kyffhäuser sich auftut. Die aber gleichwohl zäh und beharrlich ihre Lust am Formulieren mit der Hartnäckigkeit des Selbstdenkens verbinden, deren Moral nicht von Dogmen, sondern aus Irritationsfähigkeit sich herleitet.

Seit der Romantik (aber wahrscheinlich schon seit der Antike) gehört zur Grundfähigkeit des intellektuellen Typus, daß er heute seinem Geschwätz von gestern gefahr- und straflos als Geisterfahrer entgegenkommen kann. Er kann gestern für die Französische Revolution und heute für die freie Marktwirtschaft, er kann gestern Maoist gewesen und heute Katholik sein. Das hebt nicht das Vertrauen in die Profession, schadet aber auch nicht wirklich. Wir wünschten eine Welt der großartigen Eindeutigkeiten, wie Intellektuelle sie uns so hingebungsvoll entwerfen, aber wir wissen, daß wir uns tatsächlich auf dem Markt der Gurus, Kolporteure, Laienpriester, Pikkolos, Privatlehrer, Herrenreiter, Alleinunterhalter, Gardinenprediger, Eckensteher, Mannequins, Quacksalber, Exhibitionisten und so fort bewegen. Wir mögen hier und da stehenbleiben, unnötig aufgehalten werden, dem einen oder andern auf den Leim gehen, aber alles in allem wissen wir doch, wem wir wirklich was abkaufen können. Wenn wir halbwegs ehrlich sind, dann brauchen wir uns doch nicht ständig als wechselseitige Volksschullehrer, Therapeuten oder Politessen, um zu wissen, was zu wissen sich lohnt, wie zu denken verantwortlich und was zu lesen erfrischend ist.

Das muß, wenn wir es vorfinden, nicht das Etikett des Intellektuellen tragen. Vielleicht gibt es den Intellektuellen ja nur noch so, wie es heute Pferde für Mägdelein gibt, als Übergangsobjekt. Vielleicht ist der Intellektuelle tatsächlich, wie Dirk Baecker meint, durch den Hacker abgelöst worden, oder, wie ich eher annehme, durch den Moderator, den Maxwellschen Dämon am Schieber zwischen den schnellen und langsamen Ideen. Norbert Bolz für die schnellen, Michael Rutschky für die langsamen? Wie auch immer – hier können wir uns noch einmal bei Brecht bedienen: „Ist der Begriff Kunstwerk nicht mehr zu halten für das Ding, das entsteht, wenn ein Kunstwerk zur Ware verwandelt ist, dann müssen wir vorsichtig und behutsam, aber unerschrocken diesen Begriff weglassen, wenn wir nicht die Funktion dieses Dinges selber mitliquidieren wollen (...).“ Wir müssen Kunstwerk nur durch Intellektuelle ersetzen.