Jetzt ist er doch gestorben, der Stoßtruppführer, Käferforscher, Schriftsteller und Ästhet des Schreckens: Ernst Jünger zog in seinem heftigen Leben viele widersprüchliche Attribute an. Ein früher Nationalist, aber nie Nationalsozialist, nü

Jetzt ist er doch gestorben, der Stoßtruppführer, Käferforscher, Schriftsteller und Ästhet des Schreckens: Ernst Jünger zog in seinem heftigen Leben viele widersprüchliche Attribute an. Ein früher Nationalist, aber nie Nationalsozialist, nüchterner Essayist, doch auch Romancier mit ausgeprägtem Hang zur verkitschten Überhöhung, Vordenker der Konservativen und Haschischraucher. Keiner hatte es leicht mit Ernst Jünger.

Das Leben baut Totes ein

Nun müssen wir uns einen neuen dienstältesten Dichter suchen. Ernst Jünger hat nämlich seinen Beitrag zum Brecht-Jahr geliefert, indem er es zum Anlaß eines künftigen Jünger-Jahres gemacht hat. Bis dahin hat es allerdings noch Zeit, werden alle Nachrufer den letzten Hauch getan und wird die Nachwelt vor allem vergessen haben, wie schwer es Ernst Jünger der feuilletonistischen Branche gemacht hat, indem er stoisch Jahrzehnt für Jahrzehnt alle Sätze abgerufen hat, die sich noch irgend nachrufend hätte formulieren lassen.

Gehen wir auf die Halbzeit zwischen Brechts Hundertstem und Jüngers letztem, dann sieht die Welt noch klarer aus, säuberlich geteilt in die Hälften Brechts und Jüngers. Doch so genau wiederum auch nicht mehr: „Wunderbar, daß er jetzt über Steine und Käfer schreibt? Ja, das muß er gedacht haben. Das ziemt den Offizieren in den langen Wartepausen zwischen den Kriegen...“ So hat Brecht vor fünfzig Jahren bissig und mißtrauisch auf den vom Nationalisten zum Abendländer (K. Prümm) konvertierten Ernst Jünger reagiert, während er selbst noch ein Aufbaulied schrieb und fünf Jahre Eiertanz um den Stalinismus noch brauchte, um sich zunehmend mit Silberpappeln und kupfernen Tannen zu beschäftigen. 1948 jedenfalls stritt man im Westen darüber, ob es rechtens sei, daß die Engländer Ernst Jünger mit Schreibverbot belegt hatten. Im damals noch Nordwestdeutschen Rundfunk machte man gar eine Umfrage unter fünf Kritikern, darunter Peter von Zahn und Axel Eggebrecht, ob Jünger ein „großer Sprachkünstler“ (einhellig ja), er ein „Förderer des Krieges“ (einhellig ja) und es rechtens sei, ihn zu verbieten (einhellig nein).

Alsbald erklärte Jünger, der bald wieder schreiben durfte, sich vom früheren Aktivismus abstinent. Statt dessen erfand er den Waldgänger, die dritte der „großen Gestalten“ des Jahrhunderts nach Arbeiter und unbekanntem Soldaten. „Wir leben in Zeiten, in denen ununterbrochen fragenstellende Mächte an uns herantreten.“ Das assoziierte die Fragen der Nazis zum Ariernachweis umstandslos mit denen der Alliierten zur Entnazifizierung (den er selbst nie ausfüllte). Gegen die vorgebliche Kollektivierung der Zeit repräsentiere der Waldgang die „Freiheit des Einzelnen in dieser Welt“, sei „Spielraum kleiner Eliten“ und könne überall stattfinden, auch in der Stadt. Und das Schönste: Jeder kann Waldgänger, „Träger des Widerstandes“ sein. Da es dazu keiner Tat, nur einer Haltung bedurfte, gab es fortan viele Waldgänger... Der Dichter war per se Waldgänger. Der Dichter Jünger schrieb fortan noch sehr, sehr viel für Waldgänger. Über subtile Jagden auf Käfer und anderes Getier, von dem einiges bis ans Ende der einschlägigen Nomenklatur seinen Namen tragen wird. Tagebücher, parabolische Knabenutopien wie „Heliopolis“ oder „Eumeswil“, dazu Essay um Essay, allesamt 1975 Belege für Alfred Andersch: „Er war einmal ein fürchterlicher Nationalist (ein Nationalist zum Fürchten!), heute ist er ein milder Patriot und Anhänger eines Weltstaats.“

In der ersten Halbzeit hatte er allerdings kräftig auf Sturm gespielt. 1895 in bürgerlichem Elternhaus geboren, sich stolz einen Preußen und Welfen nennend, ist er 1913 in die Fremdenlegion ausgerissen („Afrikanische Spiele“, das später darüber entstand, ist eins der schönsten männlichen Jugendphantasmen der deutschen Literatur), wurde vom Vater rechtzeitig heimgeholt, um dann als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg aus der Blutsaat den höchsten Tapferkeitsorden ernten zu können. Danach studierte er Biologie und wurde bekannt im Berlin der Weimarer Republik als rabaukischer Dandy und Fachautor für nationalrevolutionäre Kriegsprosa: „In Stahlgewittern“, „Feuer und Blut“, „Der Arbeiter“ lauteten die späterhin von Anhängern und mehr noch Gegnern geradezu bibelexegetisch umhegten Titel.

Hatte er damals geschrieben: „Ich hasse die Demokratie wie die Pest“, notierte er nun in der zweiten Halbzeit ins Tagebuch: „Heute würde ich mich nicht mehr so ausdrücken, doch junge Leute pflegen das zu tun – [...] Meine heutige Wertung ist nicht politischer, sondern stilistischer Natur. Insofern scheint mir, daß ich damals unter mein Niveau gegangen bin, aber nicht deshalb, weil ich mich als Nationalist, sondern weil ich mich überhaupt beteiligte.“ Einsichtigeren seiner Kritiker war da längst gedämmert, daß man in anderen Fällen, zumal in eigener Sache, für wesentlich kürzere Verjährungsfristen zu plädieren pflegte. Jünger sah sich unterdes in einer weiteren Phase: „Vielleicht lege ich alle dreißig Jahre eine neue Montur an, und die wichtigsten Konzeptionen werden mir erst nach dem Neunzigsten zuteil.“ Es ist der Gestus der heiter gelassenen Nichtbefaßtheit („Ein Anarch beachtet sehr wohl die Tatsachen – aber er achtet sie nicht.“), aus dem heraus sich Jünger als Autor entwarf, der alle Fragen der Vergleichbarkeit, sei's mit Goethe, sei's mit Nietzsche, ausschloß. Eher schon verglich er sich mit Mike Tyson („Nicht übel – ein Anarch auf seiner Stufe“), wie er immer wieder für verblüffende Bemerkungen gut war. Das waren Überflüge in kosmische oder tellurische Banalitäten („Wenn die Wende eines Jahrhunderts mit der eines Jahrtausends zusammenfällt, drohen historische Springfluten.“) so gut wie stoische Einsichten, etwa zu Tschernobyl: „Wir leben im Atomzeitalter und werden uns wohl oder übel damit abfinden. [...] Daß man die guten Stücke herausschneiden möchte, ist verständlich, aber umsonst fliegt man nicht bis zum Mond. Umsonst nimmt man auch nicht jährlich um achtzig Millionen zu.“

Nun ist Ernst Jünger doch noch vor der Jahrtausendwende gestorben. Und wie immer man sich zu ihm stellen mag: Einfach bloß einer weniger gegenüber den diesjährigen achtzig Millionen ist das nicht. Das Leben, so Jünger, „baut Totes ein“. Daran arbeiten wir bereits. Ob sein Werk lebendig bleiben wird, was davon und wievieles nicht, das zu spekulieren ist müßig. Aber die Figur (oder: Gestalt) Ernst Jünger, die Gemengelage aus biologischem Zufall und stilistischer Selbstbearbeitung, aus Biographie und Werk wird, was immer man an Jubiläen und Gedenktagen noch zu besprechen haben wird, entschieden in die Signatur des zu Ende gehenden Jahrhunderts gehören. Erhard Schütz

Unser Autor ist Professor für Germanistik an der Humboldt-Universität in Berlin