Die Melancholie der Stadt

Historische Recherche und individuelle Spurensuche: „Fragments Jerusalem“ von Ron Havilio ist ein sechsstündiges Familien- und Stadtporträt des jüdischen Jerusalem und erzählt die Geschichte eines Sieges  ■ Von Stefan Reinecke

1839 entsteht in Jerusalem die erste technische Aufnahme der Stadt. Ein Franzose macht eine Daguerreotypie des Jaffa-Tores, das die Altstadt von dem Außen trennt. 1839 erwarten viele Juden in Jerusalem, daß der Messias erscheint. 1839 stirbt Salomon Rosenthal, ein Vorfahre des Filmemachers Ron Havilio. Rosenthal war, eigens um die Ankunft des Messias zu erleben, von Litauen nach Jerusalem ausgewandert.

Ron Havilios monumentales Porträt versammelt Hunderte solcher Momente: Episoden aus der Familiengeschichte, die meist um die erbärmliche Armut der Juden in Jerusalem kreisen, Berichte über technologische Neuerungen, in denen sich der Einzug des Säkularen in die Religionsstadt ankündigt, geschichtliche Kämpfe. „Fragments Jerusalem“ ist sechs Stunden lang: eine komplexe, weitausholende Arbeit, die historische Recherche mit individueller Spurensuche vernetzt und sich mehr oder weniger chronologisch, immer wieder vom Gestern ins Heute springend, vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart vorarbeitet.

Zehn Jahre hat Havilio an dem Werk gearbeitet. Die dokumentarische biographische Recherche ist im neueren jüdischen Kino eine Art Genre geworden. Im Fokus stehen meist die Eltern: Die Filme sind oft Versuche der Jüngeren, sich der eigenen, fraglichen jüdischen Identität zu versichern; stets umkreisen sie den Holocaust, seine späten Auswirkungen noch auf die Kinder. Ron Havilios „Fragments Jerusalem“ erweitert das Genre, verschiebt dessen Perspektive, ja sprengt sie in verschiedene Richtungen auf. Von Identitätszweifeln ist wenig zu spüren; der Holocaust taucht am Rande auf. Die Havilios leben, seit sie 1492 aus Spanien vertrieben wurden, in Jerusalem. Ron Havilio, obwohl nicht religiös, versteht sich als Teil einer gewachsenen, nicht zerrissenen (Familien-)Geschichte, deren Chronist er wird. Daher rührt ein gelassener, undramatischer Ton.

Und: „Fragments Jerusalem“ erzählt eine Geschichte mit Happy- End. Die Entwicklung der Juden in Jerusalem, die im 19. Jahrhundert wie Parias lebten, über den beginnenden Krieg mit den Arabern in den zwanziger Jahren, den Unabhängigkeitskrieg 1948 und die Eroberung der Altstadt im Sechstagekrieg 1967 erscheint als Geschichte einer Befreiung; gewiß blutig, aber erfolgreich. Die Juden, einst ganz unten auf der sozialen Skala, beherrschen heute die Stadt. Havilio erzählt, ohne Gesten des Triumphes, die Geschichte eines Sieges. „Fragments Jerusalem“ ist kein Porträt von Jerusalem, sondern des jüdischen Jerusalem. Ein wichtiger Unterschied. Die Araber haben in diesem Film keine Stimme.

Die Raffinesse dieses respekteinflößenden Werkes, sein besonderer Dreh, ist das unangestrengte Ineinander von Familien- und kollektiver Geschichte. Die verschiedenen Ebenen verbindet eine komplexe Musik, jüdische Schlager, Spinettmusik von Purcell, arabische Klänge. Freilich ist gerade die gekonnte Verknüpfung von individueller und kollektiver Geschichte nicht ungefährlich. So sehen wir einmal Ron Havilios Vater, der in den Vierzigern in der zionistischen Untergrundarmee „Hagana“ für den jüdischen Staat kämpfte. Arabische Extremisten haben das friedliche Zusammenleben von Juden und Arabern zerstört, sagt der Vater. Historisch ist das nur die halbe Wahrheit.

Der Grundton des Filmes ist von der ersten Szene an Wehmut, eine historische Melancholie, die dem Verschwundenen gilt. Der erste Blick erfaßt Mamila, ein verwaistes, zerstörtes Viertel unweit des Jaffa-Tores, das von 1948 bis 1967 im Niemandsland zwischen Israel und Jordanien lag. Dazu arrangiert Havilio eine Kindheitserinnerung: jene Fado-Musik, die seine Großmutter hörte und die von einer Sehnsucht erzählt, die kein historischer Sieg zu stillen vermag. „Fragments“ ist der Film eines Flaneurs, eines Sammlers, der historische Texte mit Fotografien verschachtelt; etwa Flauberts Tagebuch, in dem die „unfaßbare Traurigkeit“ der Stadt beschrieben ist. Havilio beobachtet, er urteilt nicht, er ist Chronist, kein Kritiker. Nur manchmal bricht er mit dieser Rolle – etwa wenn er Bilder der Klagemauer, die ein britischer Fotograf 1864 aufnahm, gegen heutige Aufnahmen schneidet und bitter bemerkt, daß das „religiöse Establishment“ es geschafft hat, daß die Geschlechter nur getrennt beten dürfen. Noch eine Trennung in einer Stadt, die zu viele Trennung erlebte.

Forum: heute, 11 Uhr, Delphi; 16 Uhr, Kino 7 im Zoo Palast; 20.2., 10 Uhr, Arsenal; 21.2., 18.15 Uhr, Akademie der Künste